❀ F I F T E E N ❀

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Nach dem Frühstück verspürte ich immer noch den extremen Drang mich irgendwie zu bewegen. Es war ungewohnt nichts zu tun. Normalerweise nutzte ich jeden freien Tag, jede freie Minute, die ich irgendwie auftreiben konnte, zum trainieren. Und jetzt zur Abwechslung mal ganz in Ruhe den Tag zu starten, ohne Stress und ohne Schmerzen, kannte ich so gar nicht. Zumindest war es schon viel zu lange her, als dass ich mich daran erinnern könnte...

Dementsprechend freute ich mich, als ich es endlich geschafft hatte David zu überreden, wenigstens mit mir spazieren zu gehen, wenn er mich schon nicht zum Training lassen wollte.

Dick eingepackt in unsere Winterjacken machten wir uns auf den Weg nach unten. Sobald wir draußen standen war ich froh, doch noch meine Mütze angezogen zu haben, denn der spät novemberliche Wind machte seinem Namen alle Ehre.

„Ich glaube, das wird der kälteste Winter, den ich je in NewYork erlebt habe..." Meinte David, während er seine Hände aneinander rieb und danach rein hauchte, ich konnte dem nur zustimmen.

Nach zehn Minuten Fußweg erreichten wir einen kleinen Wald. Wenn ich von der Eishalle nachhause gehe, fahre ich auch immer diesen Weg, daher kannte ich unsere Umgebung.

„Ganz schön leer hier..." Sagte ich, als weit und breit keine Menschenseele in Sicht war.
„Ja. Ich denke, die meisten werden um diese Uhrzeit wohl arbeiten." Die meisten, fast alle, außer er und ich...
„Aber ich finds gut, dann haben wir wenigstens unsere Ruhe..." Meinte David, während er seinen Arm um meine Schulter legte und mich noch etwas näher zu sich zog. Dann warf er mir ein warmes Lächeln zu und ich musste automatisch auch schmunzeln. Ich mochte es, wenn wir unsere Ruhe hatten. Irgendwie hatte ich dann immer ein bisschen das Gefühl, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Nichts außer uns, ihn, mich und diesen Weg.

Eine Weile liefen wir einfach nur nebeneinander her, genossen die Ruhe und vergaßen alles andere. Wir waren so vertieft in unsere Gedanken, dass wir beide überhaupt nicht merkten, wie die Zeit verging und wie weit wir eigentlich schon gelaufen waren. Hier in Bronx gab es nicht sehr viel Wald, aber der der da war, war umso schöner und dichter. Naturschutzgebiete eben... 

Auf einer Bank mit Blick auf einen kleinen See, ließen wir uns schließlich nieder. Ich lehnte mich gegen David's Schulter und schloss für einen Moment meine Augen. Da wurde mir klar, auch wenn ich es so niemals zugeben würde, dass ich diese Ruhe brauchte. Ich brauchte sie, aber ich könnte sie nicht ertragen. Zumindest dann nicht, wenn ich alleine bin. Wenn ich niemanden bei mir habe, der mich vor den Dämonen in meinem Kopf bewahrt, die mich heimsuchen, sobald ich nichts tue...

„Kann ich dich mal was fragen, Clara?" Brach David irgendwann die nachdenkliche Stille, ich nickte, ohne meinen Kopf von seiner Schulter zu heben. „Glaubst du, dass es möglich ist, jemandem zu verzeihen, auch wenn derjenige etwas schreckliches getan hat?"

Erst jetzt hob ich meinen Kopf und sah David ins Gesicht. Sein Ausdruck war traurig, irgendwie leer. Das Funkeln in seinen Augen war längst von trüben Blicken überschattet und das Lächeln auf seinen Lippen verschwunden.
„Ich weiß nicht..."
Auch ich wurde dadurch etwas bedachter. Ich musste stark dagegen ankämpfen, Erinnerungen nicht neu aufleben zu lassen, die ich seit Jahren versuche zu verdrängen.
„Aber ich glaube schon. Ich meine, Menschen können sich ändern und vielleicht ist es dann einfacher, jemanden um Verzeihung zu bitten..."
„Und was ist, wenn es etwas unverzeihliches ist?"
„Es gibts nichts unverzeihliches... Mein Vater hat immer gesagt, dass man einen Menschen nicht für immer nach seinen Taten beurteilen kann. Irgendwann macht es nämlich keinen Unterschied mehr. Was passiert ist, ist passiert, man sollte nicht sein ganzes Leben an etwas festhalten, was man nicht mehr rückgängig machen kann, das ist es nicht wert. Das Leben ist viel zu kurz, um sowas zu tun..."
Mittlerweile wusste ich, warum mein Vater das gesagt hat. Und ich wusste auch, dass er gelogen hat...

„Dein Vater scheint ein sehr kluger Mann zu sein. Redest du oft mit ihm?" Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nur selten." Und oh Gott, es war auf allen erdenklichen Ebenen gelogen. Es ist über acht Jahre her, dass wir miteinander gesprochen haben, und selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht mehr tun. Ich hasste ihn.

„Vermisst du sie?"
„Wen meinst du?" Die Frage war dumm und überflüssig, das merkte ich, sobald sie über meine Lippen getreten war.
„Deine Familie. NewYork und London sind ganz schön weit voneinander entfernt..."

Schulterzuckend drehte ich mich wieder nach vorne. Mein Blick glitt über den See, das Wasser war ruhig und irgendwie hoffte ich, es könnte mir eine Antwort darauf geben. Aber nichts passierte, die Stille fraß meinen Mut, zu sagen, wie es wirklich war. Dass es nie um die Frage ging, ob ich sie vermisse, sondern darum, ob er mir verzeihen könnte.

„Manchmal vielleicht..." Sagte ich schließlich, den Blick Richtung Boden gerichtet. Ich wollte David eigentlich nicht anlügen, aber die Wahrheit war auch keine Option. Gut, eigentlich war es keine Lüge. Aber es fühle sich wie eine an, wenn ich daran zurückdachte, was mich an diesen Punkt, ganz alleine, also ohne mein Familie hier in NewYork zu sitzen, gebracht hat.

„Und was ist mit dir? Vermisst du deine Familie, wenn du so viel auf Reisen bist?"
Ein lächerlicher Versuch, von mir abzulenken. Aber es klappte.
„Ja, sehr. Aber zum Glück habe ich trotz meiner vielen Reisen die Möglichkeit meine Familie regelmäßig zu besuchen. Manchmal kommen sie auch mit."
Bei diesen Worten legte sich wieder ein leichtes Lächeln auf seine Lippen und mir wurde sofort etwas wärmer. Ihn glücklich zu sehen bedeutete mir alles.

Irgendwann war es so kalt, dass wir uns wieder auf den Rückweg machten. Wir waren länger unterwegs als erwartet. Das wurde mir dann klar, als ich einen Blick aufs Handy warf und mir neben tausenden Nachrichten von Kira, die ich aber alle wegwischte um sie später zu beantworten, auch die Uhrzeit ins Gesicht sprang.
Kurz nach zwei.
Es schien, als würden die Stunden rennen...

„Ich hoffe, dass dich der Spaziergang ein bisschen ausgepowert hat..."
David musste lachen, währenddessen kramte ich meinen Schlüssel hervor, damit ich die Wohnung aufschließen konnte.
„Ein bisschen vielleicht, aber nichts ersetzt mein heiß geliebtes Training!"
Ich rümpfte ironisch die Nase, was meine Aussage unterstreichen sollte. David kommentierte das bloß mit einem Kopfschütteln, mir war schon klar, dass er mich für verrückt hielt. Gut, war ich vielleicht auch, zumindest ein bisschen...

„Wenn du's darauf ankommen lassen willst krieg ich dich schon noch dazu, heute nicht mehr so von deinem Training zu schwärmen..."
Ein Blick in sein Gesicht verriet mir, was er damit sagen wollte, doch ich rollte bloß mit den Augen und schob ein wenig überzeugtes: „werden wir ja noch sehen" hinterher, während wir die Wohnung betraten.

Mir entglitt jeder Gesichtszug, als ich sah, dass wir nicht alleine waren.

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Oh oh, wer mag das wohl sein...?

Lasst wie immer gerne eure Meinung in den Kommentaren stehen, ich freute mich über Feedback/Gedanken und Meinungsaustausch :)

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Bis hoffentlich morgen, im nächsten Kapitel <33

Promised Love - the stranger in my bed | LH FFWhere stories live. Discover now