❀ T H I R T Y S E V E N ❀

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Wir hatten noch nicht einmal die Wohnung betreten, da kamen uns die Scherben auf dem Boden entgegen.

„Nein, nein, bitte nicht..." Ich kniete mich hinab, meine Stimme klang erstickt. Sie war doch alles was ich hatte. Und jetzt war sie kaputt, das Einzige, was mich noch an ihre Unterstützung erinnerte war zersprungen in Millionen kleine Stücke. Und es war ganz alleine meine Schuld.

„Nicht-" David zog mich zurück. „Du tust dir weh. Ich geb jemandem bescheid, dass er das Chaos beseitigen soll. Hol einfach was du brauchst und dann verschwinden wir wieder, ich glaube das ist besser..." Er schob mich vor sich her, ich löste meinen Blick vom Boden und hörte nur noch wie die Scherben unter unseren Schuhen knarzten, bevor wir mein Zimmer erreichten. Ich war viel zu perplex, vollkommen versteinert, als hätte mich etwas an der Situation festgenagelt.

„Du brauchst nur deine Tasche, oder?"
„Und mein Notizbuch", erwiderte ich leeren Blickes und wusste dabei selbst nicht, warum ich das gesagt hatte. Ich brauche mein Notizbuch eigentlich gar nicht.
„Okay, und wo ist das? In irgendeiner von diesen Schubladen da?" David zeigte auf die kleine Kommode neben meinem Bett. Ich nickte stumm, woraufhin er als erstes die obere - und dann die zweite Schublade öffnete, in welcher sich das besagte Stück befand.

Meine Sporttasche mitsamt den Schlittschuhen und Sportklamotten stand auf meinem Bett, wo ich sie gestern einfach hingeschmissen hatte. Eigentlich wollte ich sie noch ausräumen, aber dazu bin ich dann ja nicht mehr gekommen...

„Okay, dann lass uns jetzt gehen, ja?"
Bevor ich überhaupt irgendwas von dem was hier gerade geschah realisierte, hatte sich David bereits meine Tasche und das Notizbuch geschnappt und war dabei mich wieder zurück zu schieben. Diesmal blieb ich nicht stehen, nur David bückte sich noch einmal um mein Handy aufzuheben, welches irgendwo in mitten der ganzen Scherben und Splitter lag.

Dann ließen wir das Chaos hinter uns. Im selben Moment in dem die Tür ins Schloss fiel, tauchte Margarita auf. Der kleine Tiger kam gerade aus der Tür meiner Nachbarn spaziert, als diese von innen geöffnet wurde.

„Oh, hallo Clara mein liebes! Freut mich dich mal wieder zu sehen. Und sogar mit Begleitung." Anita, eine Frau mittleren Alters, grinste in David's und meine Richtung. „Wie läuft denn das Training für die Qualifikation? Ich habe gehört, es sind nur noch zwei Wochen..."
Ich nickte zustimmend und versuchte ein Lächeln hervor zu pressen, auch wenn ich gerade nichts lieber tun würde, als einfach zu gehen.
„Ja, noch zwei Wochen. Aber das Training läuft ganz gut, denke ich. Ich glaube, wir werden gute Chancen haben." Erklärte ich, während ich mich zu Margarita runter bückte, um ihren weichen Kopf zu streicheln. Ich musste unwillkürlich lächeln.
„Das freut mich zu hören. Scheinst ja auch gute Unterstützung zu haben, wenn ich das richtig sehe, nicht wahr." Sie grinste wieder, das wusste ich, ohne sie anzusehen, aber ihre Stimme verriet die etwas ältere frau.

Als ich hochsah, schaute ich direkt in Davids Augen, der sofort auf die Aussage von Anita aufsprang und eifrig nickte.
„Ich helfe wo ich kann." Das tat er wirklich, und genau das war das Problem.
„Na dann. Ich wünsche euch noch einen schönen Tag, und grüß deine Tante von mir! Komm, Margarita, jetzt gibt's was zu Essen für dich." Sie winkte ihre Katze zu sich, die natürlich sofort in die Wohnung verschwand und verabschiedete sich dann von uns. Ich kann meiner Tante gar nichts mehr ausrichten.

Ich blieb noch einen Moment sitzen um ihre Worte auf mich wirken zu lassen. Aber ich verstand es nicht. Wie kann ein Mensch längst weg sein, einfach sterben, während andere noch nicht einmal darüber Bescheid wissen und noch immer in dem Glauben leben, denjenigen wiederzusehen. Wie in aller Welt kann das funktionieren?

„Komm, Clara. Lass uns gehen."
Ich folgte Davids Worten und stand auf, doch das änderte nichts an den Fragen in meinem Kopf, die auf dem Weg zum Auto nicht weniger geworden waren. Wie werden andere Leute reagieren, wenn sie hören, dass Carol gestorben ist? Was passiert mit ihren ganzen Sachen? Wer hilft mir mit dem ganzen Papierkram, der dann sicher auf mich zu kommt? Ich wusste es nicht, wirklich nicht, aber in diesem Augenblick war es mir auch irgendwie egal. Ich sollte mich lieber darum kümmern wirklich diese Qualifikation zu schaffen, damit nicht alles umsonst war...

Noch immer völlig in meinen Gedanken gefangen, verabschiedete ich mich von David, als mich dieser bei der Eishalle absetzte. Ich wollte da jetzt wirklich nicht rein, denn dann müsste ich mich Pascal und Nils erklären, nicht nur warum ich zu spät bin, sondern auch, warum ich aussehe, als hätte ich seit drei Tagen nicht geschlafen. Und das wollte ich nicht, ich wollte mit niemandem sprechen, niemanden sehen oder hören. Ich wollte doch einfach nur bei David sein und seine Nähe spüren, die das einzige war, was mir im Moment Sicherheit gab.

Weg von diesem Gedanken betrat ich die Umkleiden, wo mir, anders als erwartet, als aller erstes Kira entgegen kam. Was machte die denn hier?

„Aha! Schön, dass du uns auch mal wissen lässt, dass du noch lebst!" Fuhr sie mich an, während sie ihre Arme vor der Brust verschränkte.
„Tut mir leid, mein Handy war aus." Ich seufzte schwer und ließ mich auf die Bank in der Mitte der Schließfächer sinken.
„Ja, das habe ich durchaus bemerkt. Darf man vielleicht fragen warum oder bist du dir dafür zu schade?"
Mein Kopf schreckte zu ihr. „Zu schade?!" Ich hatte gerade wirklich keine Lust ihr die Situation zu erklären, aber mir zu unterstellen, ich sei mir zu schade, um mich bei meinen Freunden zu melden, war abartig.
„Ja, oder willst du mir gerade wirklich erzählen, dass du mich ohne Grund ignoriert hast?"
Kopfschüttelnd holte ich meine Schlittschuhe aus der Tasche, umgezogen hatte ich mich auf dem Weg bereits. Doch das hielt Kira offensichtlich nicht davon ab mir weiter die Moralapostel zu spielen, was mich ehrlich gesagt einfach nur nervte.
„...Und ganz abgesehen davon, weißt du ganz genau, dass in knapp zwei Wochen die Qualifikationen sind, und es betrifft nicht nur dich, wenn du meinst, dass du wichtigeres zu tun hast, als pünktlich zum Training zu kommen. Die Kür läuft sich schlecht alleine, Nils kann nichts dafür, wenn du das hier nicht ernst genug nimmst!"
„Nicht ernst genug nehmen?!"
Ich konnte nicht glauben, dass sie das wirklich gesagt hatte. Sah denn hier keiner, dass ich mein ganzes drecks Leben opfere, nur um das hier zu tun...?
„Ja, ganz offensichtlich tust du das, oder... " Ich schaltete ihre Stimme auf stumm, denn sie machte es nur noch schlimmer. Die Wut kochte in meinen Adern, immer heißer, immer höher. Mit jedem Wort, was sie sagte, mit jeder Unterstellung, die sie direkt an meinen Kopf warf, zerriss mein Geduldsfaden mehr und mehr. Bis er schließlich durch war.

Ich schnürte die letzte Schleife fest zu, beinahe grob zerrte ich an der Schnur, die eigentlich gar nichts dafür konnte, bevor ich mich wieder aufrichtete und Kira direkt ins Gesicht sah. Meine Blicke sollten sie töten, zumindest für einen Augenblick Stummschalten.
„Hör verdammt nochmal auf dich in mein Leben einzumischen!" Fauchte ich. „Und hör auf über Dinge zu reden, von denen du keine Ahnung hast. Mein Leben läuft gerade richtig beschissen, also Steck dir deine scheiss Moralaposteln sonst wohin, ich muss mich jetzt nämlich erstmal darum kümmern, die verdammte Beerdigung von meiner Tante zu organisieren!" Damit war es raus.

„Was, wie-" Stotterte sie und sah mich mit großen Augen an. Kira war jeglicher Gesichtszug entglitten, als ich den Tod von Carol erwähnt hatte. Aber ganz ehrlich, es war mir egal. Wie sie schon sagte, ich war sowieso schon zu spät dran.

Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren ging ich an ihr vorbei. Eigentlich wollte ich nicht so ausrasten und eigentlich wollte ich mich auch nicht mit ihr streiten, aber ich konnte nicht anderes. Die Dinge, die sie da gesagt hatte, haben mich verletzt, und ich bin nicht weit genug, um in solchen Situationen meine Emotionen unter Kontrolle zu behalten. Das kann ich einfach nicht...

„Clara?! Wo zur Hölle hast du gesteckt?" Fragte Nils, der gerade von der Eisfläche kam und warf mir einen ungläubigen Blick zu.
„Ich hab gerade echt keinen Bock darüber zu sprechen, also lass uns bitte einfach trainieren. Wo ist-"
Pascal, nach dem ich gerade fragen wollte, unterbrach mich. „Nicht quatschen, rauf aufs Eis ihr beiden!" Wir gehorchten ohne Widerspruch, dennoch entging mir der Seitenblick von Nils nicht, als dieser kurz nach mir zurück aufs Eis schlitterte.
Ich hoffte jetzt einfach nur, dass mich dieses Training irgendwie vom wesentlichen ablenken konnte. Dass ich für einen Moment nicht darüber nachdenken muss, was hätte sein können wenn... Wenn was?
Wenn ich meine Tante früher zurückgerufen hätte? Wenn ich Heather geholfen hätte?
Wenn ich damals nicht das schlimmste getan hätte, was man als Mensch nur tun kann?

Verdammt, Clara?! Er ist die scheiss Treppe doch von ganz alleine runtergefallen!

Promised Love - the stranger in my bed | LH FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt