❀ T H I R T Y O N E ❀

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Kaum hatte ich die Wohnungstüre wieder geschlossen, kamen all die Gefühle zurück, von denen ich mich gerade losgerissen hatte und ich musste wieder anfangen zu weinen. Warum habe ich ihnen gesagt, dass sie gehen können? In diesem Augenblick bereute ich es, darauf bestanden zu haben, dass ich alleine sein kann. Denn das konnte ich nicht, nicht in diesem Moment.

Die Stille brach schwer über mir ein, während die Stimmen in meinem Kopf immer lauter wurden. Es ist deine Schuld. Du hast sie ignoriert, als sie dich angerufen hat. Du bist ein schlechter Mensch, du wirst niemals wieder glücklich werden.
Ich hielt es nicht mehr aus. Ich wollte meinen Kopf gegen die Wand schlagen, nur um diese Stimmen endlich loszuwerden!

„Sei leise! Halt endlich die Klappe!" Schluchzer erklommen meine staubtrockene Kehle. Ich wollte sie nicht mehr hören. Aber sie war immer noch da. Noch näher, noch lauter, sie lachte. Und dann brach etwas in mir. Gefühle, Wut, einfach alles. Ich hatte keine Kontrolle über mich selber, als ich nach der Porzellanfigur von der Kommode griff, ein Klirren folgte. Die weiße Eiskunstläuferin zersprang in Millionen Teile, über den ganzen Fußboden verteilt.
Was hast du bloß getan?!

Das fragte ich mich auch. Was hatte ich getan? Ich trat einen Schritt zurück, stieß mit der Hüfte gegen den Schrank, doch ich spürte keine Schmerz. In diesem Moment fühlte ich gar nichts. Nicht einmal mein pochendes Herz, wie es raste, als wäre ich einen zwei Kilometer Sprint gelaufen.
Du hast sie kaputt gemacht, zerstört, was dich immer daran erinnern sollte, warum du hier bist. Genauso kam es mir auch vor. Als gäbe es nichts mehr, was mich darin bestärkte hier zu sein. Carol ist tot, ohne sie habe ich auch das letzte Stück meiner Kindheit verloren, was noch da war. Mein Bruder ist schon vor acht Jahren gegangen...

Plötzlich brach die Realität in ihrer vollen Intensität auf mich ein und ich realisierte, was ich getan hatte. Die Scherben, mein Traum, das Leben hier. Tränen flossen meine Wangen hinab, meine Beine gaben unweigerlich unter mir nach und ich sank zu Boden. Auf einmal fühlte sich alles so bedeutungslos an, ich nutzlos. Warum war ich damals nicht die, die gestorben ist...?

Meine Fähigkeit klar zu denken war weg, als ich mein Handy hervorkramte um jemanden anzurufen. Das hier konnte ich nicht alleine schaffen, dafür war ich nicht bereit. Und vielleicht hatte David recht, jeder Mensch brauchte jemanden. In diesem Augenblick verstand ich das volle Ausmaß dieser Aussage. Und ich verstand auch, dass er damit recht hatte, von Anfang an.

Es wählte kein zweites mal, bevor ein Knacken in die Leitung trat. Dann eine Stimme.
„Clara. Ist alles okay?"
Ich schüttelte meinen Kopf, ließ ihn in den Nacken fallen, wobei ich mich an der Kommode stieß. Nichts war okay, überhaupt nichts!

„Ich kann nicht mehr." Die Schluchzer ließen ein Beben durch meinen Körper fahren. Mir war kalt, eiskalt und ich konnte kaum antworten, als David fragte was passiert war. Die Tränen erstickten meine Stimme.
„Sie ist tot." Flüsterte ich schließlich, es schien als würden meine Stimmbänder in tausend Stücke gerissen werden.
„Wer ist tot? Clara, was ist passiert?"
In diesen Sekunden bereute ich es David angerufen zu haben. Er hatte nichts mit all dem zu tun. Aber ich konnte nicht ohne ihn, ich brauchte ihn, und das wusste ich jetzt auch.
„Carol", hauchte ich. „Carol ist tot."
Ich vergrub den Kopf in den Händen, wischte mir mit dem Ärmel ein paar Tränen von den Wangen, was im Grunde genommen ziemlich unnötig war, da direkt neue nachströmten.

„Was, wie... Wo bist du?"
Ich wollte ihm antworten, aber ich konnte nicht. Ich war nicht mehr Herr über das was ich tat, was ich sagte oder dachte.
„Clara?!" Wiederholte er und es brach mir das Herz, dass er sich solche Sorgen um mich machte. „Bist du zuhause? Bitte sag mir, dass du zuhause bist!" Im Hintergrund ertönte ein Stumpfer Schlag, eine Autotüre vielleicht? Keine Ahnung, jetzt war jedenfalls nicht die Zeit darüber nachzudenken.

„Ja." Krächzte ich schließlich, woraufhin er ein erleichtertes Seufzen von sich gab. Wieder ein stumpfer Schlag.
„Sehr gut. Bleib da, okay? Ich schicke jemanden vorbei, der auf dich aufpasst, bis ich da bin, hast du mich verstanden?"
„Nein. Es ist alles meine Schuld... Sie hatte einen Herzinfarkt." Worte konnten nicht beschreiben, was für ein schlechtes Gewissen ich hatte. Dafür, dass ich gestern nicht ans Handy bin, dafür, dass ich nicht da war, als sie mich gebraucht hätte. So wie bei Heather.
Plötzlich kam mir ein Gedanke. Die Worte hallten in meinem Ohr, als wären sie gestern erst zu mir gesagt worden. Er wird uns alle umbringen.

Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, wen Heather damit gemeint haben könnte. Wer sollte uns umbringen? Ich war fest davon ausgegangen, dass sie verrückt war. Aber vielleicht war sie das ja überhaupt nicht. Wer weiß, vielleicht holt uns die Vergangenheit alle irgendwann ein und wir bekommen das, was wir verdient haben? Wenn ich recht darüber nachdenke, dann ist niemand wirklich unschuldig an dem, was damals passiert ist...

„Sag sowas nicht! Es ist nicht deine Schuld, hörst du?!" David redete auf mich ein. Immer und immer wieder sagte er mir, dass es nicht meine Schuld ist, und ich wünschte mir nichts mehr, als dem glauben schenken zu können. Aber das Gefühl war da, und ich war mir sicher, dass es echt war...

„Bitte, ich will nich mehr. Es tut einfach so scheisse weh..." Mein Kopf fiel wieder zurück und ich brach erneut in Wimmern und Schluchzen aus. „Nein, alles wird gut, versprochen! Ich bin bei dir, okay?" Ich hörte das schmerzliche Lächeln in seiner Stimme, doch wusste ich, dass er mit mir mit litt.
„Danke, aber ich glaube diesmal wird es wirklich nicht mehr gut..."
„Doch, das wird es, verspro-" Seine Stimme verstummte. Als ich aufs Handy blickte, sah ich, dass das Telefonat abgebrochen hat und der rote Ladebalken sprang mir ins Gesicht.

„Verfickte scheiße!" Ich raufte mir die Haare. Mein Körper schüttelte sich und ich weinte bitterlich. Warum jetzt, warum ausgerechnet jetzt?! Mit einem lauten Scheppern fiel das Handy aus meinem Schoß, als ich aufstand. Ich hob es nicht auf und ich steckte es auch nicht ein. Nichts von diesen Dingen kam mir in den Sinn, klar denken konnte ich nämlich nicht mehr. Aber ehrlich gesagt wollte ich einfach nur noch weg. Weg von hier, weg von diesem Ort, an dem mich alles an Sachen erinnert, an die ich nicht erinnert werden wollte. Am besten nie wieder, aber das war nicht möglich, das wusste ich...

Ohne zu wissen was ich tat, lief ich los. Die Scherben knarzten unter meinen Schuhen, doch ich ging weiter. Das letzte, was man hörte, war nur noch wie, die Tür aus den Angeln flog, dann meine schnellen Schritte im Treppenhaus. Ich rannte nach draußen.
Stille, nur ganz kurz.
Dann stürzte die Außenwelt auf mich ein und ich wankte zwei Schritte zurück, als ein Auto mit voller Geschwindigkeit auf dem nassen Asphalt direkt an mir vorbeibretterte. Warum stand ich auf der Straße?

„Clara?!"
Mein Kopf zuckte nach links, wo ein Wagen auf dem Gehweg hielt. Eine dunkle Gestalt kam auf mich zu, unter dem Gegenlicht der Autoscheinwerfer konnte ich nicht mehr erkennen, als dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Doch er kannte meinen Namen trotzdem...
„Clara, kommen Sie von der Straße!" Woher kannte er meinen Namen?
Mir blieb keine Zeit um darüber nachzudenken, er kam immer näher.
Du musst hier weg, jetzt sofort. Los, renn! Und ich rannte.
„Warten Sie, bleiben Sie stehen!" Ich blieb nicht stehen. Als ich einen Blick hinter mich warf sah ich, wie er zurück zu seinem Wagen rannte, die Autotür aufriss und losfuhr. Direkt hinter mir her.

In diesem Moment war ich mir sicher noch nie in meinem Leben so schnell gerannt zu sein. Meine Umwelt flog an mir vorbei, in rasender Geschwindigkeit und ich bekam nichts von dem mit, was wirklich passierte. Meine konfusen Gedanken waren für einen Augenblick stummgeschaltet, übertönt von den Stimmen in meinem Kopf, die mir sagten, ich solle rennen. Und das tat ich...

Promised Love - the stranger in my bed | LH FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt