38. Auf dem Weg zu dir zurück

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Das Boot war auf das weite Meer hinausgetrieben, in den Nebel hinein. Inzwischen hatte der Nebel es so bedeckt, sodass man es nicht mehr sah. Es schienen nur die Flammen, welche man als ein rotes Licht im Nebel erkannte.
Die Berkianer standen am Strand und schauten in die Ferne. Wie lange sie dort schon standen? Vermutlich erst ein paar Minuten. Aber sie wirkten viel länger als sie tatsächlich waren.
Es waren bereits viele Tränen vergossen worden. Das Leid und der Schmerz wurden mit jeder Sekunde schlimmer.
Bald machten sich die ersten Dorfbewohner, ohne etwas zu sagen, auf den Weg nach Hause. Der Strand, an dem sie sich befanden, war neben dem Dorf, von dem man im normalen Schritttempo mehrere Minuten brauchte, um her zu kommen. Immer mehr Leute gingen davon, verließen das traurige Szenario. Es kam zu einem Zeitpunkt, an dem auch die Drachenreiter sich fassten und zu ihren Hütten schritten. Nur Hicks, Ohnezahn und Sturmpfeil blieben da.
Die beiden Drachen standen weiter hinten, Hicks näher am Meerwasser. Die letzten Berkianer stiegen gerade einen kleinen Hügel hinauf und wagten es nicht, sich noch einmal umzudrehen. Die zwei Drachen und der Wikinger trauerten in Stille. So lief es schon die ganze Zeit ab.
Nach dem endlos scheinenden Weg zum Strand hatten sie die Trage, auf der die Leiche Astrids lag, auf dem Boot abgesetzt, ins Meer treiben lassen und dann angezündet. Es folgte eine Rede von Hicks, um für Astrid die letzte Ehre angemessen durchzuführen. Der junge Mann hatte sich schwergetan, unter dieser Trauer, diesem heftigen Schmerz, richtige Sätze zu formen. Dauernd ertönte ein Schluchzen, die ganze Zeit über konnte man seinen Kummer an seiner Stimme ausmachen.
Den Rest der Zeit war das ganze Volk über still gewesen. Auch auf dem Weg zurück ins Dorf herrschte pure Stille. Hicks, der am Strand stand, beobachtete den flackernden roten Punkt im Nebel und schwieg wie bisher.
Wie konnte er nur jemals weitermachen? Wie und wann konnte er diesen Schmerz und diese schreckliche Erfahrung einfach hinter sich lassen und vergessen? Nein. Das war unmöglich. Seine Zukunft war zerstört. Er konnte sich keine andere Frau, die bis ans Ende an seiner Seite stand, vorstellen. Wie konnte es nur zu diesem harten Schicksalsschlag kommen? Wieso hatte er das zugelassen? Wieso hat er Astrid nur sterben lassen? Wieso hat er sie losgelassen, seinen Händen entkommen lassen? Warum?
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Der Schweiß auf ihrer Haut vermehrte sich von Sekunde zu Sekunde, je länger sie auf der Stelle stehen blieb. Es brauchte Zeit, zu realisieren, dass sie das Leben zurückerlangen konnte. Danach brauchte es Zeit, zu realisieren, dass sie sich auf einem brennenden Boot befand.
Schockiert blickte Astrid um sich, rund um sie waren Flammen. Sie hustete, weil der Rauch ihr in den Hals drang. Aber dies ließ sie nicht länger zu. Sie hatte gelernt, was es bedeutete, zu leben. Sie würde ihr Leben nie wieder verlieren. Die Erinnerung an die Worte ihrer Mutter, die sie vor ein paar Minuten in Walhalla gemeinsam mit ihrem Vater das letzte Mal gesehen hatte, ließ sie automatisch an ihr Dekolleté fassen. Sie fühlte die goldene Kette, die ihre Mutter ihr gegeben hatte, und dachte an die Worte ihrer Eltern: Als Hofferson würde Astrid immer einen Weg finden, wenn sie nur an ihre Instinkte, ihren Geist und auf ihr Herz hörte.
Entschlossenheit stieg in ihr auf. Sie würde zu ihren Freunden zurückkehren, egal, was auf dem Weg zu ihrem alten, normalen Leben auf sie zukommen wird. ,,Ich bin eine Hofferson und als Hofferson finde ich einen Weg.“ Die 20-Jährige griff mit ihrer Axt hinter ihren Rücken und befestigte sie dort. Sie tat es immer so, wenn sie ihre Axt nicht in der Hand halten wollte oder konnte. Es gab ihr wieder ein vertrautes Gefühl. Es war ein Art weiterer Beweis dafür, dass Astrid sie selbst war. Dass sie lebte. Sie schluckte den Klotz in ihrem Hals runter und fuhr dann mit drei Worten fort: ,,Berk, ich komme!“
Mit diesem Satz stieß Astrid sich kräftig mit den Beinen vom Boot ab und tauchte mit nach vorne gestreckten Armen ins kühle Blau. Für einen Moment fühlte sie die stechende Kälte, die sie von einer Sekunde auf die andere von allen Seiten umgab. Dann kratzte sie ihre Erfahrungen im Schwimmen, die sie die letzten Jahre gesammelt hatte, zusammen, kehrte zur Oberfläche zurück und setzte sich in Bewegung.
Ihr war eiskalt, aber in diesem Moment erschien ihr die Kälte angenehm und erfrischend. Sie fühlte sich lebendig. Sie fühlte sich, als könnte sie alles schaffen. Ihre Arme und Beine arbeiteten mit aller Kraft, ließen sie nach vorne preschen, durch den dichten Nebel hindurch. Die Erkenntnis, sie würde ihre Freunde und ihre Heimat wiedersehen, gaben ihr den nötigen Antrieb. Ohne irgendeinen Verlust von Kraft zu fühlen, schwamm sie ehrgeizig nach vorne, in die Richtung, von der das Boot gekommen war.
Nach einer Zeit merkte sie zwar, dass das Boot weiter vom Strand entfernt war, als sie gedacht hatte, aber sie ließ sich nicht unterkriegen. Ein Bild von Berk drängte sich in ihr Gehirn. Sie erinnerte sich an die Häuser, die ganzen Anlagen für Drachen, die Werkstatt, die Große Halle, ihr eigenes Haus, die Tribüne für das Schafrennen. Sie dachte an all das. Auch an die Bewohner von Berk, darunter die Heilerin Gothi, der Handwerker Grobian, Valka, Pütz und Mulch oder an andere Berkianer. Ihre Vorstellungskraft ließ sie ihre Freunde sehen. Fischbein und Fleischklops, die Zwillinge und ihr Wahnsinniger Zipper, Rotzbakke und Hakenzahn. Als letztes stellte Astrid sich Hicks vor, der auf Ohnezahn saß und das Leben mit seinem typischen Lächeln genoss. Neben ihm war Sturmpfeil, die Ohnezahn fröhlich angurrte.
Dies gab Astrid ihren letzten Schub an Energie. Mit all den Erinnerungen, all ihrer Kraft und mit ihrem ganzen Herzen klatschten ihre Hände und Beine immer heftiger gegen das Wasser, bewegten sich noch viel rascher als zuvor und trieben sie in einer hohen Geschwindigkeit nach vorne - Soweit, bis sie bereits hinter dem dichten Nebel den Strand erkennen konnte.
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Hicks blickte neben sich und bemerkte erst jetzt, dass die ganzen Berkianer bereits gegangen waren. Nach den vielen Schweigeminuten entkam ihm ein Seufzen. Würde es nach ihm gehen, würde er den Rest seines Lebens hier am Strand stehen und dem Meer schwerst betrübt entgegenblicken. Doch er wusste, dass dies zu nichts führen würde.
Schmerzerfüllt wandte Hicks seinen intensiven Blick vom Licht im Nebel ab und fühlte erst jetzt, wie viel er geweint hatte. Seine Augen waren noch immer rot und glasig, seine Wangen feucht von den Tränen.
Er konnte Astrid doch nicht einfach so aufgeben! Aber er konnte nichts dagegen tun. Er wurde dazu gezwungen. Aber der Wikinger würde sich dem nicht unterwerfen. Auch wenn es hoffnungslos war, er würde Astrid niemals aufgeben.
Der Drachenreiter wusste nicht, wie lange er für das kleine Stück am Strand bis zu dem kleinen Hügel gebraucht hatte, aber es dauerte lange, so langsam, wie er ging. Er war sich darüber bewusst, dass Ohnezahn und Sturmpfeil ihn bereits überholt hatten und vor ihm gingen, aber er nahm nichts anderes um sich wahr. Das einzige, was ihn in diesem Moment aus seiner Benommenheit reißen konnte, war die Stimme, die hinter ihm ertönte.
,,Haddock, willst du mich wirklich so leicht aufgeben?!“

Hiccstrid ~ Schwere Zeiten ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt