KAPITEL 42

597 40 6
                                    


„Auch die Flucht wird dir nie die Gefühle nehmen, vor denen du flüchten willst." – Evelyn Pierce

Nur noch 133 Kilometer. Einhundertdreiunddreißig. 133 Kilometer zum neuen Leben. Doch wie sollte ich mich fühlen? Freudig? Glücklich? Einerseits ja, andererseits hatte ich solch große Angst davor was uns vorbesteht. Ich konnte schnell mein Haus verkaufen, es gab unzählig viele Interessenten für das Haus mit dem kleinen See. Das Haus meiner Mutter jedoch wurde vom Makler als „nicht verkäuflich" ausgesprochen. Ich meine, wer will schon in ein Haus wohnen, in dem 3 Menschen starben?

„Freust du dich schon kleines?" fragte Micah und sah in den Rückspiegel um Mariellas lächelndes Gesicht zu erhaschen. „Ja." Rief sie laut quietschend und auch ich musste wegen ihr ein klein wenig schmunzeln. „Und du?" fragte Micah nun an mich gewandt. Sein sanftes Lächeln umhüllte ihn, als wäre er der Schönling auf der Verpackung der so beliebten Keksrolle. Ich sah ihn an und nickte nur leicht. Mir war noch nicht nach vielen Worten.

Nachdem ich Micah eine Textnachricht, kurz nachdem mein Plan feststand, schrieb, eilte er sofort zu Mariella und mir. Ich bat ihn herein, bot ihn einen Kaffee an und kam sogleich zur Sache. „Ich werde umziehen Micah, weit weg an die Küste. Würdest du mich begleiten? Immerhin brauche ich dich für die Firma bei mir." Erinnerte ich mich an meine Worte. Micah brauchte einige Sekunden um zu realisieren, was ich da gerade zu ihm gesagt hatte, doch er willigte ein, er würde mich nicht allein lassen sagte er. Ich wusste nicht, ob er das aus nächster Nächstenliebe tat, oder weil er mehr als diese Liebe für mich empfand. Doch im Moment hatte ich keine Zeit um darüber nachzudenken. Micah war freundlich, er versuchte mich aufzumuntern und abzulenken. Und auch wenn er wirklich sehr schlecht darin ist, mit Kinder altersgerechte Gespräche zu führen, war ich ihm dankbar, dass er auch für Mariella da war. Denn dieses kleine Wunder braucht sehr viel Liebe. Liebe, die ich ihr gerade nicht geben konnte.

Ich wühlte in meiner Tasche, die auf meinen Schoß stand und zog mein schwarzes Notizheft heraus. Es sah schon sehr alt und kaputt aus, dabei habe ich einfach nur damit herumgespielt während ich auf der Suche nach einer neuen Inspiration war. Doch so leicht es mir damals immer fiel zu schreiben – so schwer ist es nun die passenden Worte zu finden. Doch genau in diesem Moment, wo ich hätte lieber reden sollen, als zu schweigen, schrieb ich.

„Du warst mein Halt, mein Anker, wenn die Flut kam. Du warst da, wenn ich dich brauchte, auch wenn ich es niemals zugegeben habe. Und ich brauchte dich, brauchte dich immer. Doch als du mich gebraucht hast, war ich einfach verschwunden, ich war einfach nicht für dich da. Glaube mir, ich bereue dies zutiefst. Es gibt nichts in meinem kleinen Leben, was ich mehr bereue als dich allein gelassen zu haben. Du hast dein ganzes Leben auf mich aufgepasst und ich schaffte es nicht einmal einige Tage für dich da zu sein. Ich war nicht da, saß nicht an deinem Bett, als dein Körper sich entschied für immer still zu stehen. Ich war nicht da, als du deinen letzten tiefen Atemzug gemacht hast. Ich war nicht da, als du dein letztes Wort gesprochen hast – das letzte Wort, welches mir hätte gelten sollen um dir noch eine letzte Antwort geben zu können, um dir sagen zu können, wie sehr ich dich geliebt und gebraucht habe, wie sehr ich dich noch heute liebe und brauche. Ich war nicht da, als du zum aller letzten Mal deine Umgebung wahrgenommen hast, die bunten Farben, der letzte helle Sonnenstrahl, der am Ende nur noch schwarz-weiß war. Doch glaube mir mein Engel, im Himmel ist es kunterbunt, doch meine Welt ist nur noch grau ohne dich. Wie konntest du es wagen mich zu verlassen, ohne ein Wort zu sagen? Wie konnte ich nur so egoistisch sein und dich allein lassen. Warum habe ich dich nicht mit an diesen Ort genommen, den ich doch so sehnlichst mir gewünscht habe, um dich noch ein letztes Mal lebendig zu sehen?

Ich habe so oft Gründe gesucht, Gründe um dich zu hassen. Doch man kann keinen Grund finden, wenn es keinen gibt. Es gab nur Liebe. Liebe, die ich dir nie gezeigt hatte, denn ich wollte stark sein. Ich wollte stark für das Leben sein – doch ich bin zu schwach für deinen Tod. Ich verkrafte es nicht und es gibt auch hierfür keinen Grund. Auf ein „Warum Du? Warum nicht ich?" bekomme ich keine Antwort. Der Tod brauch keine Antworten, er nimmt sich das Leben, wenn es dazu bereit ist oder plötzlich bereit sein muss. Der Tod stellt keine Fragen, er achtet nicht darauf, wie es den anderen geht. Der Tod nimmt sich das, auf das er jahrelang gewartet hat. Und ist es nicht so, wir warten Jahre lang nur auf den Moment der Vergänglichkeit. Unser Körper ist vergänglich. Unsere Erinnerung schmerzlich. Nach dem wir Tag für Tag daran arbeiten unser Leben zu verschönern müssen wir eines Tages, kurz bevor wir das helle Licht des Himmels erfassen, eingestehen das wir gelebt haben, doch nie lebendig waren. Und egal wo ich jetzt bin, ich fühle mich nicht Zuhause. Denn mein Zuhause warst du. Und während ich nur ein Kapitel in deinem so wunderbaren Leben war, warst du für mich das ganze Buch."

Ich legte den schwarzen Kugelschreiber zwischen den Seiten des Notizbuches und klappte es zu. Meine Finger glühten förmlich vom vielen Schreiben, doch mein Kopf brannte regelrecht. Ich war ausgelaugt, von den ganzen Gefühlen die ich nur schrieb und nicht richtig rausgelassen habe. Es tat gut und auch tat es mir weh. Und obwohl es nur ein kleiner Brief war, saß ich an diesem gerade sehr lange. Das wurde mir bewusst, als Micah den Wagen stoppte und unsere Augen auf das kleine Häuschen am Meer gerichtet war. „Wir sind da." Sagte Micah ruhig, seine Augen waren weiterhin auf das Haus gerichtet. Von außen sowie von innen war das Haus, wie die Immobilienmaklerin sagte, im Landhausstil errichtet. Ein Stil, der mir schon immer sehr gefallen hat. Die Holzfassade war in einem alten pastellfarbenen Blauton, der seine besten Zeiten schon hinter sich hatte, dennoch gefiel es mir so. Die Fensterrahmen waren weiß, jedenfalls, was an Farbe noch übrig war. Hier würden wir wohl oder übel nochmal den Pinsel schwingen müssen. „Ich fange morgen gleich an zu streichen" gab Micah von sich und gab meinen stillen Gedanken eine Stimme. „Hm." Brummte ich nur zurück und sah mich weiter um. „Komm wir steigen mal aus." Sagte Micah und setzte sich in Bewegung. Sofort ging er nach hinten, schnallte Mariella ab und lies sie hinunter, als sie den Sand endlich entdeckte. „Mama" rief sie begeistert während ihre kleinen zarten Hände den Sand berührten und sie wild versuchte eine Sandburg zu bauen. Ich lächelte sie kurz an und gab Micah zu verstehen, dass ich schon einmal in das Haus hinein gehe, während er kurz auf Mariella aufpasst und unsere Koffer aus dem Auto ausladen würde.

Micah gab mir unseren Schlüssel den ich aufgeregt entgegen nahm. Ich wusste noch immer nicht, was ich von alldem halten würde, doch ich wollte einen Neuanfang. Schnell schrieb ich, bevor ich zu unserem Haus ging, Olivé und Audrey, dass wir angekommen sind. Sie würden innerhalb der nächsten Woche hier eintreffen. Auch sie haben sich für ein Haus am Meer entschieden und „zufällig" genau das Haus neben unseres, welches auch in den gleichen Farbtönen gehalten wurde. Ich betrat die Treppe, die unter mir ein wenig knackste. Auch hier sollten wir vielleicht die Bretter tauschen. Olivé und Audrey haben für ihr Haus mehr bezahlt, jedoch nur, weil es neuer ist und vermutlich keine knacksende Treppe besaß. Aber auch das sollte mir recht sein. Ich wollte nur fliehen. Langsam steckte ich den Schlüssel in das Schloss, drehte ihn zweimal herum und betrat unser neues Zuhause.

Die Immobilienmaklerin behielt recht, das Haus wurde auch innen im Landhausstil errichtet. Viele weiß- und pastelltöne strahlten mich an, der Boden war meist dunkel gehalten. Es roch nach Staub und Meer. Ich ging einige Schritte und öffnete das kleine Fenster neben der Garderobe. Wir hatten wirklich wahnsinniges Glück, wir alle. Es wäre wirklich sehr teuer geworden, hätten wir unsere Möbel mit einem Umzugsunternehmen bis hierher bringen lassen. Deswegen waren wir umso erfreutet, gleich 2 möbilierte Häuser erwerben zu können. Der Flur war offen und verbunden mit der großen geräumigen Küche mit einer Essecke an der großen Glastür mit Ausblick auf das Meer. Direkt hinter der Glastür war eine kleine Terrasse mit zwei Holzbänken und einem kleinen Tisch. Ein paar dekorative Kissen waren auf den Bänken, sowie ein Windspiel am Balken des Balkons. Ich öffnete die große Glastür, setzte mich auf die kleine Treppe die direkt zum Strand führt und sah auf das Meer hinaus. Das Kinderlachen, was immer lauter wurde und näher kam, lies mich darauf schließen, dass Mariella mit Micah spielte. Ich behielt recht als ich sah wie Mariella zum Strand lief und Micah ihr folgte. „Gleich habe ich dich kleine Maus." – „Aah, Mami Hilfe!" rief Mariella lachend und rannte weiter. Ich schmunzelte leicht und schüttelte mit dem Kopf. Ich atmete tief ein und schloss die Augen. Die große Glastür, Mariellas Unbeschwertheit, der Geruch des Meeres – all das erinnerte mich an Malibu. Oh Malibu, wie sehr ich dich vermiss.

Let me be your poem [girlxgirl]Onde histórias criam vida. Descubra agora