-23-

21.5K 616 177
                                    

Miguel
08.34 Uhr

Als sie nach 30 Minuten noch immer nicht fertig ist, gehe ich hoch zu ihr.

"Amara?"
Ich klopfe am Badezimmer.

"Bin gleich so weit.", entgegnet sie nur.
Ich will gerade wieder gehen, als sie die Holztür öffnet. Sie trägt ein weißes Top und eine lockere Jeans, die zugegebenermaßen ihre langen Beine gut zur Geltung bringt.

"Kannst du mir ein neues Pflaster auf meine Schulter kleben? Dieses hier ist abgegangen und ich kriege das Neue nicht alleine drauf.", bittet sie mich etwas eingeschüchtert.

Ich halte meine Hand hin, als Zeichen, dass sie mir das Pflaster geben soll.

Sie versteht.

"Deine Schulter ist ganz rot. Ich werde dir in Culiacan einen Arzt holen.", teile ich ihr mit, als ich das neue Pflaster auf ihre verletzte Schulter klebe.

Sie zischt kurz schmerzhaft auf und legt reflexartig ihre Hand auf meine, um mich in meiner Bewegung zu stoppen.

"Sorry", entschuldigt sie sich und entfernt ihre Hand von meiner. Beschämt senkt sie den Blick auf das Waschbecken vor ihr.

"Fertig, können wir dann?", informiere ich sie, dass ich jetzt gerne los möchte.
Sie nickt und folgt mir dann aus dem Bad.

Ich bemerke, wie sich sich umschaut und anscheinend meine Schwester sucht.

"Sofia ist schon auf der Arbeit"

"Oh, wo arbeitet sie?", fragt sie interessiert und nimmt sich eine Banane aus dem Obstkorb.

Hättest du dir keinen Apfel nehmen können?!

"Sie arbeitet im Jugendheim, obwohl sie gar nicht mehr arbeiten bräuchte.", erzähle ich ihr.

"Komm jetzt", fordere ich sie auf, bevor sie sich hinsetzt.
"Warum müsste sie nicht mehr arbeiten?", runzelt Amara die Stirn, während sie neben mir her läuft.
Ihr Blick liegt auf mir.

"Xavier verdient genug, das reicht für die beiden.", beende ich die Fragerei, indem ich ihr die Tür des Wagens aufhalte.
Ohne zu meckern, steigt sie ins Auto.
Die Tasche verstaue ich im Kofferraum, dabei fallen mir die Kabelbinder auf.

Kurz überlege ich, ob ich sie an der Tür festbinde, entscheide mich jedoch dagegen. Auch wenn sie Verwandte in Culiacán hat, weiß sie, dass sie mir nicht entkommen kann.
Erst recht nicht in Mexiko.
Außerdem sind mir die roten und blauen Blutergüsse an ihren Handgelenken nicht entgangen.

Ich schließe also den Kofferraum und werfe mich auf den Fahrersitz.
Im Wagen ist es schon ziemlich warm, weshalb ich die Klimaanlage aufdrehe.

"Und sagst du mir jetzt, wie lange wir fahren?", wiederholt sie ihre Frage von gestern Nacht.

Ungewollt muss ich schmunzeln.

"7 Stunden circa", tue ich ihr den Gefallen.
Zufrieden beiß sie in die Banane.

Gott im Himmel.

Sie kuschelt sich in den Ledersitz und reibt sich über ihre schmalen Arme.
Mir ist klar, dass ihr kalt ist, deshalb hadere ich mit mir, ob ich ihr meinen Hoodie geben soll.

Letztendlich halte ich am Straßenrand und ziehe ihn mir über den Kopf.
"Hier, zieh den an.", halte ich ihr den Pulli hin. Überrascht sieht sie mich an.

"Mach schon", drängel ich.
"Danke", nimmt sie mir meinen grauen Hoodie aus der Hand.
Im Augenwinkel sehe ich, wie sie in dem viel zu großen Pulli versinkt.
Die Ärmel gehen ihr weit über die Hände und auch an den Schultern sitzt er locker.

Amara

Wir fahren gerade auf einer Hauptstraße direkt neben dem Meer entlang und ich genieße die Aussicht.
Auf einem Straßenschild sehe ich, dass in 3 km ein Rastplatz kommt und man Zugang zum Meer hat.

"Können wir da anhalten?", bitte ich Miguel.

"Sicher nicht.", blockt er ab.

"Nur 5 Minuten, bitte Miguel!", lasse ich nicht locker.
"Ich hab nein gesagt, Amara!"
An seinem Kiefer erkenne ich, dass er die Zähne aufeinander presst.
Vermutlich, um sich zu beruhigen.

"Ich muss auch auf Toilette.", versuche ich ihn jetzt anders umzustimmen.
Genervt rollt er mit den Augen.

"Kannst du nicht einmal das tun, was von dir verlangt wird?", will er genervt wissen.

Was wird denn von mir verlangt?

Er scheint meinen verwirrten Blick zu bemerken, denn er seufzt.
"5 Minuten! Aber nur weil ich auch pinkeln muss.", gibt er nach.
Ich versuche meine Freude zu unterdrücken.

"Was sagt man da?", fordert er mich auf, mich zu bedanken.

Ich grinse.
"Danke Miguel."

Er schmunzelt leicht.

Miguel

"Können wir noch runter zu Meer? Bitte!", quengelt sie wieder nachdem ich von der Toilette komme. "Amara, ich bin nicht hier, um Urlaub zu machen!", verneine ich.

"Ich war schon lange nicht mehr in Mexiko, bitte!", hört sie wieder nicht auf.
Ich schnaufe.

"Wehe du spielst Spielchen und haust ab!", drohe ich ihr.

Ihre Augen werden groß.
"Danke danke danke!", versteht sie, dass ich zugestimmt habe.
Außerdem hat sie irgendwie Recht.
Wir sind seit zwei Tagen fast durchgehend im Auto. Gegen 5 Minuten am Meer spricht also nichts.

Ich fasse ihr Handgelenk, um sicher zu gehen, dass sie nicht abhauen kann.
Auf ihrem Gesicht liegt ein zufriedener und faszinierter Blick und sie scheint das erste Mal in meiner Gegenwart richtig glücklich zu sein.

Als wir den Sand betreten, kann ich sie kaum noch zurückhalten.

"Das Wasser ist so warm Miguel, komm auch mit den Füßen rein!", ruft sie mir zu, während ich auf dem warmen Sand sitze und ihr zu schaue, wie sie wie ein Kind durchs Wasser läuft.

Ich lehne ab.
"Komm jetzt, du bist so ein Spießer!", macht sie sich jetzt über mich lustig.

Spießer? Ist das ihr Ernst?

"Ich bin kein Spießer. Das nennt man erwachsen.", erwidere ich genervt.

Spießer. Ich glaube, ich höre wohl nicht richtig.

"Komm endlich, am Handy spielen kannst du heute Abend noch genug!", provoziert sie mich.

Spielen? Ich arbeite!

Ich stehe auf, um sie endlich aus dem Wasser zu holen.
"Endlich!", ruft sie und klatscht in die Hände.

Freu dich nicht zu früh, princesa.

Als das Wasser sich zurück zieht und Amara eine Sekunde unaufmerksam ist, schlinge ich meinen Arme von hinten um ihren Bauch und trage sie aus dem Wasser.
Sie schreit auf und lacht dann laut.

"Lass mich runter!"
Sie haut mir belustigt auf meinen Arm, der sie fest an meinen Körper drückt.

AmaraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt