-40-

20.5K 606 112
                                    

Amara

"Du kannst hier bei mir schlafen. Ich sage Xavier Bescheid, dann schläft er bei Miguel.", bietet mir Sofia an und holt ihr Handy raus.

„Nein! Das ist nicht nötig. Ihr habt euch so lange nicht gesehen...", will ich ihr die Nacht nicht ruinieren. Sie hat damit ja eigentlich nichts zu tun, dann soll sie jetzt nicht wegen mir alles ändern.

"Amara, wenn Miguel den Auftrag erteilt hat, dann wusste Xavier bestimmt Bescheid. Ich werde jetzt sicherlich nicht mit ihm eine Nacht verbringen.", blockt sie ab und schreibt Xavier eine Nachricht.

"Danke, Sofia", zwinge ich mir ein Lächeln auf. Sanft streicht sie mir über den Oberarm.

"Warte, ich hole dir ein paar Sachen zum Schlafen. Dann ziehst du dich um und dann gucken wir eine Serie, einverstanden?", schlägt sie vor und ich stimme zu.

21:56 Uhr

Ich stehe gerade im Bad und creme mein Gesicht mit Sofias Nachtcreme ein, als ich laute Stimmen vor der Badezimmertür wahrnehme.

"Du sollst verschwinden, sonst garantiere ich für nichts!", ruft Sofia.
Mein Herz pocht wild gegen meine Brust und ich halte mich automatisch am Waschbecken fest, weil ich genau weiß, wer da vor der Tür steht.

"Amara, mach die Tür auf.", höre ich Miguels Stimme.
"¡Amara, por favor!", ruft er erneut.

Wie kann er es jetzt noch wagen hier her zu kommen und mir Befehle zu geben?
Hat er denn wirklich überhaupt keinen Respekt?

"Miguel, verschwinde!", ruft Sofia und auch Xavier's Stimme ist zu hören.
"Miguel, du solltest sie jetzt erstmal in Ruhe las-"

"Halt die Schnauze, Xavier.", unterbricht Miguel ihn forsch und klopft gegen die Tür.
„Amara, mi amor. Mach die Tür auf bitte. Ich tue dir nichts.", verspricht er mir, doch ich kann ihm nicht mehr glauben.

"Verschwinde!", brülle ich ihn durch die Tür an.

Kurz ist es still und ich habe einen Augenblick das Gefühl, als würde er auf meine Bitte hören, doch da habe ich mich getäuscht.
"Amara, hör mir zu. Bitte", fleht er wieder.

Ich kann nicht mehr.
Ich greife nach dem Taschenmesser, dass ich in Sofias Tasche gesehen hab und gehe auf die Tür zu.

Nachdem ich tief durch geatmet habe, öffne ich die Tür.
Alle drei schauen mich an.
Miguels Augen sind rot und glasig, seine Haare verstrubbelt.

"Amara", will er auf mich zu kommen, doch ich ziehe das Messer hinter meinem Rücken hervor.

"Ein Schritt weiter und ich stech' dich ab!"

Meine Stimme ist so angsteinflößend, dass ich mich selber vor mir erschrecke.
Abwehrend hebt Miguel die Hände und geht einen Schritt zurück.

Die anderen sagen nichts, da sie vermutlich wissen, dass Miguel mich im Ernstfall kinderleicht überwältigen könnte.

"Leg das Messer weg.", bittet er mich.

„Einen Scheiß werde ich. Entweder verschwindest du oder ich stech' dich ab!", hauche ich ihm hasserfüllt entgegen.
"Das ist mein voller Ernst.", füge ich hinzu.

Ich sehe die Waffe unter seinem Jackett, die, wie immer, in seinem Hosenbund steckt. Früher hätte ich mich davon beirren lassen, heute nicht mehr. Erst jetzt merke ich, wie viel stärker ich in den vergangenen Wochen geworden bin.

Zum ersten Mal ist da sowas wie Angst und Unbehagen, das ich in seinen Augen sehen kann. Der Spott, die Freude und die Arroganz sind verflogen.
Diesmal scheint er zu spüren, was Angst bedeutet.

Die Angst, die ich hatte, während ich bei ihm war. Als ich nicht wusste ob und wann er mich ermorden lässt.

Als die Erinnerungen zurück kommen, lasse ich automatisch das Messer sinken.
Kraftlos.
Ich habe keine Energie mehr, mich dieser Sache zu widmen.
Miguel hingegen nimmt die Hände runter und geht auf mich zu.
Man sieht ihm zum ersten Mal an, dass er die Situation nicht richtig einschätzen kann und das macht mich verdammt stolz.
Ich habe ihn in der Hand.

Kurz vor mir bleibt er stehen.

Einen Augenblick lang schaue ich ihn an, dann hole ich aus.
Nicht mit der flachen Hand.

Nein.

Mit der Faust.

Meine Fingerknöchel schmerzen, als sie auf seine harte Schläfe treffen, doch das blende ich aus, weil es mir Genugtuung verschafft.
Schmerzverzerrt fasst er an sein Auge, während ich blitzschnell nach seiner Waffe greife.
Im selben Moment stelle ich ihm ein Bein und schubse ihn, sodass er hilfslos vor mir auf den Boden fällt.

Er liegt unter mir.

Hilflos.

So, wie ich es wollte.

Er versucht ruhig zu wirken, doch ich sehe ihm genau an, wie viel Panik er hat, dass ich ihn gleich einfach abknalle.
Nicht er hat die Situation im Griff, sondern ich.

Einzig und allein ich.

Ich beobachte das dunkle Blut, dass auf die weißen Marmorfliesen tropft.

"Und? wie fühlt sich das an? So ganz hilflos auf dem Boden. Kommt bestimmt nicht oft vor, hab ich recht?", flüstere ich ihm entgegen.
Sein Brustkorb hebt sich schnell, während er die Augen immer noch vor Schmerz zusammenkneift.

"So schnell kann das gehen, wenn man den falschen Auftrag erteilt. Da solltest du demnächst etwas mehr aufpassen, mi amor.", benutzte ich den Kosenamen, den er mir so gerne gibt.

Xavier und Sofia stehen im Flur und schauen sich alles genau an.
Mir ist nicht entgangen, dass Xavier seine Hand auf seine Waffe gelegt hat, trotzdem weiß ich, dass er nicht eingreift.
Nicht, solange Sofia neben ihm steht.

"Wo ist deine unfreundliche Klappe jetzt hin, hm?", provoziere ich Miguel und ziele mit der schweren Waffe auf seinen Kopf. Meine Hand zittert und mir wird langsam schwindelig, aber das versuche ich auszublenden.
Ich muss jetzt stark sein.
Für Mama und meinen Bruder.

"Ich dachte, es wäre endlich vorbei. Deine ständigen Demütigungen, deine Beleidigungen, deine Gewalt mir gegenüber. Anstatt, dass du mir die Wahrheit sagst und dazu stehst, was du mir angetan hast, küsst du mich. Du küsst mich, schläfst mit mir, sagst mir tolle Dinge, verteidigst mich vor deiner Nutte und tust so als würde dir was an mir liegen.", zische ich ihm unter Tränen entgegen.

"Hör auf.", bittet er mich.
Er will nicht hören, was er mir angetan hat.
Er hat ein falsches Spiel mit mir gespielt und will sich jetzt nicht einmal eingestehen und anhören, was er mir angetan hat!

Seine Augen sind geschlossen, doch eine einzelne Träne bahnt sich aus seinem rechten Augenwinkel, die mich ablenkt.

Genau in dem Moment, wird mir alles zu viel. Die Waffe in meiner Hand fühlt sich falsch an, als würde sie dort nicht hingehören.
Dann höre ich immer wieder die Stimme meiner Mutter, die mir sagt, dass man mit Gewalt nicht auf Gewalt antworten soll.

Ich sacke auf Knie, halte die Waffe fest in meiner Hand.
Meine Sicht verschwimmt und die Tränen fließen mir über die Wangen.

Laut schluchze ich.

Ich sehe Miguels Umrisse, wie er sich aufrappelt und vor mich hinkniet. Er will mir die Waffe aus der Hand nehmen, doch ich gebe sie nicht her.

„Amara, ¡por favor!", bitte er mich und will meine Finger lösen.

Ich greife noch fester zu.
So blöd das klingt, aber sie gibt mir Halt und vor allem Sicherheit.

Sicherheit vor Miguel.
Sicherheit vor Xavier.

Sie ist mein Schutzschild.

"Amara, por favor"
Sanft streicht er über meine Hand, doch ich nehme ihn kaum war. Seine Stimme ist gedämpft und sogar seine Berührungen fühlen sich unecht an.

AmaraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt