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Amara
10.03 Uhr

"Willst du mitkommen? Ich wollte uns was zu essen holen."
Miguel hat meine Tür geöffnet und stützt sich am Autodach ab.
Ich stelle meine Füße auf den heißen Asphalt des Rastplatzes, doch ich kann nicht richtig aussteigen, da er mir den Weg versperrt.

Er hält mir seine Hand hin, denn er weiß genau, dass ich sie nehmen muss, wenn ich aus dem Auto steigen will.

Unfreiwillig greife ich sie halbherzig und lasse mir aus dem Auto helfen, doch er gibt mich nicht frei.
Im Gegenteil.
Er nähert sich meinem Gesicht, sodass ich schnell meinen Kopf wegdrehen muss, damit er mich nicht küssen kann.
Sein Kopf ist neben meinem Ohr, sein Gesicht ist gesenkt.

"Sorry", flüstert er und drückt sich dann vom Autodach ab.

Es ist komisch ihn so zu sehen, aber deshalb werde ich jetzt kein Mitleid mit ihm haben. Er hatte schließlich auch kein Mitleid mit mir, als er mir meine Mutter und meinen Bruder genommen hat.

"Du hast einen ganz schön festen Schlag. Den haben viele meiner Männer nicht.", schmunzelt er gequält, während wir auf die Raststätte zu gehen.
Ich meine ihn seufzen zu hören, als ich erneut nicht antworte, doch denke mir nichts dabei.

Ich will einfach so schnell wie möglich wieder ins Auto und weiter nach Los Angeles.
Während ich mich an die Theke lehne und warte das Miguel endlich alle Sachen beisammen hat, schaut mich ein junger Mann an. Er sieht freundlich aus, deshalb lächel ich zurück.

"Cola oder Wasser?", erschreckt mich Miguels laute Stimme.
"Cola", rufe ich ertappt zurück.

Warum fühle ich mich ertappt?
Ich tue doch gar nichts schlimmes.

Miguel wirft dem jungen Mann einen komischen Blick zu, als er zur Kasse geht und die Lebensmittel bezahlt.
Immer wieder schaut er zurück, so, als müsste er aufpassen, dass mir nichts passiert.

"Willst du draußen essen oder im Auto?", murmelt Miguel, als er von der Kasse kommt.
Er reicht mir meine Cola und legt dann seine Hand auf meine Taille.
Ich will ihm sagen, dass er seine Hand wegnehmen soll, doch er hat mich so fest im Griff, dass ich mich nicht traue.

"Amara?", spricht er mich erneut an.
„Hm?", frage ich unsicher. 

"Draußen oder Auto?"
Er hält die Brötchen Tüte hoch.

"Auto", entscheide ich taktisch. Ich will einfach nur Musik anmachen und der Musik zuhören, damit er nicht labern kann.

Er hält mir die Tür auf, schnell setze ich mich rein und nehme direkt sein Handy in die Hand.

Kurz ertönt die Musik, dann setzt er sich hinters Steuer und macht das Radio einfach ganz aus.

"Hey!", beschwere ich mich.

„Ich hab gestern geweint.", fängt er an und schaut aus der Frontscheibe auf den vollen Parkplatz.
„Das letzte Mal habe ich geweint, als meine Mutter gestorben ist. Da war ich 12.", erzählt er mir.

"Normalerweise ist es mir egal, wenn ich Leute töte oder den Auftrag erteilt habe, aber ich habe es direkt bereut, als wir uns näher gekommen sind. Ich wusste, dass das mit dir was ernstes ist und ich habe es am Anfang versucht auszublenden. Aus genau diesem Grund. Ich wusste, dass ich dir wehtun würde und ich wusste auch, dass ich das nicht verkraften würde."

Er redet nur von sich.
Das er wusste, dass er es nicht verkraften würde.
Aber was ist denn mit mir?
Schließlich hat er meine Mutter umbringen lassen.

"Fuck, ich könnte schon wieder heulen!"
Er reibt sich über die geröteten Augen, deshalb schaue ich ihn heute das erste Mal richtig an.

Er sieht schlecht aus und ich bekomme den Eindruck, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen.
Tiefe Augenringe zieren sein Gesicht und auf seinen Augen liegt ein matter Schleier.
Er hat sich nicht rasiert und seine Haare hat er auch nicht gemacht.

Alleine der Fakt, dass er keinen Anzug trägt, sondern eine Jogginghose und einen Hoodie, dessen Kapuze tief in sein Gesicht gezogen ist, sagt alles über seinen Zustand aus.

"Hast du heute schon was gegessen und getrunken?", frage ich ihn, weil er den Eindruck macht, als würde er jeden Moment zusammenbrechen.

"Vodka. Heute um 6 Uhr", gesteht er mir.
"Ich hab die ganze Nacht an der Bar gesessen."

"Aber du hättest doch auf der Couch schlafen können?", runzle ich die Stirn.
Er schnauft belustigt.

„Ich konnte nicht. Ich hab mich so vor dir geschämt, dass ich das nicht mit mir vereinbaren konnte. Außerdem hätte ich eh nicht schlafen können."

Ich schnaube.
"Wie bitte? Sowas banales konntest du nicht mit dir vereinbaren, aber mir mein erstes Mal nehmen war kein Problem?", zische ich wütend, weil seine Ausreden einfach nur billig sind.

"Steig aus. Ich fahre weiter, bevor ich auch noch unter der Erde lande, weil du die Augen kaum aufhalten kannst."
Wütend öffne ich die Beifahrertür und gehe um die Motorhaube herum.

"Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann das nicht rückgängig machen aber ich dachte, wenn ich deinen Dad anrufe und die Beerdigung zahle, dass das sowas wie eine Widergutmachung ist. Mittlerweile weiß ich auch, dass das totaler Quatsch ist.", schnaubt er, während er sich aus dem Auto quält.

„Iss was und setz dich auf den Beifahrersitz. Ich fahre zurück nach Los Angeles.", übergehe ich sein Gefasel.
Ich kann und will es nicht mehr hören.

„Ich diskutiere nicht.", beende ich das Gespräch, als er etwas erwidern will.
Er nimmt mir das Brötchen aus der Hand und trottet um den Wagen herum, bis er sich schließlich neben mir auf den Beifahrersitz fallen lässt.

Während ich auf meinem Brötchen rum kaue, beobachte ich die Leute auf dem Rastplatz. Das Leben der Leute sieht so unbeschwert aus, sie haben Spaß, Lachen und unterhalten sich.

„Was denkst du, wer dieser Mann ist?"
Miguel zeigt auf einen trainierten Mann mittleren Alters. Er sitzt auf einer Bank und schaut seinen Kindern beim Spielen zu.
Ich schaue ihn mir genauer an.

"So jemand wie du, nur schon im Ruhestand.", witzel ich herum, obwohl mir eigentlich nicht nach Lachen zumute ist.

Miguel muss lachen.

„Ich will aber keine Kinder.", beginnt er.
„Vielleicht wollte er auch keine, nur seine Frau hat die Pille vergessen", spekuliere ich.
Miguel grinst.

"Ich möchte auch keine Kinder.", füge ich an.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich ihm das sagen muss.
Keine Ahnung warum.

Nachdem, was er mir angetan hat, kann ich mir sowieso keine Zukunft mit ihm vorstellen.

Miguel schaut mich mit einem leichten Lächeln an.
Kurz fällt mein Blick auf seine Lippen, als er sie mit der Zunge befeuchtet, sodass ich schnell wieder nach draußen schaue.

"Was ist mit ihr?", deute ich auf eine Jugendliche, etwas jünger als ich. Sie trägt nur schwarz, hat ihre Augen dunkel geschminkt und trägt schwarzen Lippenstift.

"So jemand wie du, nur jünger.", ärgert er mich.

"Wie bitte?", empört schlage ich ihm auf die Schulter.
Nicht, weil ich nicht mit diesem Mädchen verglichen werden will, sondern, weil er das nur gesagt hat, um sich für meine Aussage zu rächen.

Ein kehliges Lachen ertönt.

AmaraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt