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04:12 Uhr

Wir sitzen im Auto.

Miguel fährt, wie immer.
Gelangweilt sitze ich auf dem Beifahrersitz und schaue in die Dunkelheit.

"Schlaf doch noch ein wenig.", schlägt Miguel mir vor.
Ich schüttle den Kopf.

"Kann ich das Radio anschalten?", frage ich ihn. "Klar, wir können auch mein Handy anschließen, dann kannst du dir selber Musik aussuchen.", bietet er mir an.

"Ist nicht extra nötig.", verneine ich.
Er lacht leise.
„Schließ mein Handy an. Ich will nicht die langweilige Musik aus dem Radio hören."
Er entsperrt sein Handy mit einer Hand und wählt eine Playlist aus.

"Freust du dich auf Amerika?", will er wissen, während er mir das Handy reicht.
Ich zucke mit den Schultern.

"Ich könnte jetzt überall sein und es wäre mir irgendwie egal. Ich hab keinen der mich erwartet. Mein Vater weiß nicht mal Bescheid und anrufen kann ich ihn auch nicht.", erkläre ich ihm gekränkt.

„Mein Bruder ist noch immer weg. Er ist letzte Woche 13 geworden.", flüstere ich leise.
Ich habe es ihm nicht erzählt, weil es ihn vermutlich gestört hätte.
So wie alles.

Erst jetzt fällt mir auf, wie verkorkst mein Leben ist. Meine Mum ist tot. Mein Bruder vermutlich auch. Mein Dad weiß nicht mal irgendwas davon und ich sitze bei einem Drogenboss auf dem Beifahrersitz.

"Dein Vater weiß Bescheid."
Miguels raue Stimme lässt mein Blut in den Adern gefrieren.
"Was?", hauche ich fassungslos.

"Ich habe ihn angerufen und ihm alles gesagt. Nicht, dass ich ein Kartell führe, aber dass du bei mir bist und du sicher bist. Er wird sich um die Planung der Beerdigung kümmern", fährt er fort.

Tränen bilden sich in meinen Augen.

"Aber wie?", frage ich immer noch überwältigt.

„Das bin ich dir schuldig, nicht wahr?"
Zum ersten Mal merke ich ihm an, dass es ihn auch verletzt hat, als ich ihm so offensichtlich gesagt habe, dass er an allem Schuld ist.
Ehrlich gesagt, wusste ich bis jetzt nicht einmal, dass ihn überhaupt etwas verletzen kann.

Außer einer Kugel natürlich. Aber das ist schließlich Berufsrisiko.

"Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", gestehe ich ihm atemlos.
„Danke Miguel!"
Aufrichtig sehe ich ihn an.

Ein gezwungenes Lächeln bildet sich auf seinen Lippen.

"Ich habe gar kein Geld, um die Beerdigung zu bezahlen.", gebe ich nach kurzer Denkpause zu.

"Musst du nicht. Ich habe deinem Vater genug Geld überwiesen. Ihr könnt deiner Mutter die Beerdigung geben, die sie verdient hat.", gesteht er.

Entsetzt schaue ich ihn an.
„Das kann ich nicht annehmen!", lehne ich sein Angebot deutlich ab.

"Halt deine Klappe. Ich diskutiere das nicht mit dir.", beendet er das Gespräch.

"Miguel!", will ich ihnen deinen Plan aus dem Kopf schlagen, doch er unterbricht mich.
"Ich hab gesagt, dass du deine Klappe halten sollst."

Ich lehne mich beleidigt in den Sitz zurück und verschränkte die Arme vor meiner Brust.

"Du kannst so lange rumschmollen wie dir lieb ist, das wird nichts ändern", gibt er mir zu verstehen, dass nichts ihn umstimmen kann.

"Dein Vater kommt Dienstag nach Los Angeles. Dann könnt ihr alles planen.", fügt er noch hinzu. Ich antworte absichtlich nicht.

"So stell ich mir das vor.", beginnt er schmunzelnd. "Ich lege etwas fest und du akzeptierst das. Ganz einfach.", ärgert er mich.
Als ich gerade etwas antworten will, dreht er absichtlich die Musik lauter.

10:57 Uhr

7 Stunden später kommen wir wieder in Hermosillo bei seiner Schwester an, die uns schon sehnsüchtig erwartet.
"Da seid ihr ja endlich! Ich freue mich so auf Amerika, ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen!", begrüßt sie uns aufgeregt.

Ich umarme sie fest.

"Wegen Amerika oder wegen Xavier", brummt Miguel vor sich hin, als er seine Autotür schließt.
Ich muss kichern.

"Kommt, ich hab Frühstück gemacht. Aber esst nicht so langsam, ich will schnell los!", witzelt sie und schiebt mir einen Stuhl zurück, als wir in der Küche ankommen. Der Tisch ist gedeckt mit Wurst und Käse, Marmelade, Obst, Rührei und Spiegelei.
Sie hat sogar an Croissants gedacht.

"Los, bedient euch!", hält sie uns den Brötchenkorb hin.

"Amara, ich wusste nicht ob du lieber Spiegelei oder Rührei isst, deshalb hab ich beides gemacht."
Die Worte, die ihren Mund verlassen, überschlagen sich fast, so schnell redet sie.

"Sofia.", ertönt Miguels raue Stimme.

Sofia blickt ihren Bruder an, der sie emotionslos anschaut.

"Beruhig dich.", fährt er fort und schmiert sich dann sein Brötchen weiter.
Sie kichert.

"Entschuldige, Amara. Ich bin so aufgeregt!", flüstert sie mir zu.
Ich lächel sie an.

"Aber das macht ja nichts, schließlich hast du Xavier ja auch schon länger nicht mehr gesehen!", beruhige ich sie.
Sie wird rot.
"Außerdem versteht dein Bruder von sowas nichts, also nimm ihn nicht so ernst.", provoziere ich Miguel absichtlich.

Schnell hebt er seinen Blick, der auf meiner Haut brennt.

"Ja, das stimmt.", bestätigt sie mir.
"Er freut sich bestimmt auf dich.", mache ich ihr Mut und ignoriere Miguel.

AmaraWo Geschichten leben. Entdecke jetzt