(NEU) 29 - Lagrima

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Kurz nachdem Steven an der Tür seines Bruders geklopft hatte, kam er in das Zimmer herein.
Mittlerweile war es spät am Abend gewesen, und seit dem Streit mit Amika am gleichen Tag, hatten sie kein Wort mehr miteinander gewechselt.
"Kyu?", nuschelte Steven, welcher hinter sich die Tür wieder schloss. "Hast du vielleicht eine Minute?"
"Seh ich so aus als könnte ich hier weg?", Kyus Laune war definitiv im Keller, genauso wie seine Stimme. Und seine Augen waren ziemlich gerötet. Oh je... Er schien den Streit echt nicht verkraftet zu haben...
"Ich wollte mich nur kurz-", Steven hielt kurz inne und ließ sich auf dem Schreibtischstuhl des Jungen nieder. Seine Stimme wurde deutlich leiser. "Nur kurz entschuldigen..."
"Entschuldigen für was?"
"Dass ich dich in die ganze Sache hineingezogen habe. Und dass du deswegen Streit mit Amika hast", ein erleichtertes Gefühl umgab den Jungen. Den ganzen Tag hatte er schon überlegt, wie er das loswerden könnte und hatte nie etwas gefunden. Vielleicht war es wirklich das Beste gewesen, es einfach gerade heraus zu sagen...

"War's das dann?", bedrückt schloss Kyu einfach nur noch die Augen und versuchte möglichst ohne Schmerzen durchzuatmen. "Wenn ja, lass mich allein. Lass mich einfach allein..."
Verwundert hob Steven beide Augenbrauen. Komisch, so hatte er seinen Bruder nur ein einziges Mal zuvor erlebt. Er hatte schon geahnt, dass es zwischen Amika und ihm gekracht haben musste, so wie sie neulich beim Rausgehen reagiert hatte. Aber dass es so schlimm war? Es verstärkte seine Schuldgefühle nur noch mehr.
"Bro, hör mal. Das wird schon wieder zwischen euch", versuchte er seinen Bruder verzweifelt aufzumuntern. Die beiden mussten sich einfach wieder versöhnen! Schließlich waren die beiden schon immer ein tolles Team gewesen. Das durfte doch jetzt nicht einfach so enden. Wenn er so recht darüber nachdachte, war es sowieso ziemlich übertrieben. Er hatte ein einziges Mal ein Geheimnis vor ihr. Und sie waren schließlich nur Freunde. Wo war also das Problem? Kyu hatte ein eigenes Leben!
"Geh endlich raus!", schrie Kyu ihn an und deutete wütend in Richtung Tür, in seinen Augen herrschte das pure Chaos an Emotionen... "Kapierst du eigentlich nicht, dass ich einfach allein sein will?! Ich kann weder deine Gesellschaft gebrauchen, noch möchte ich über Amika sprechen!"

Erneut klopfte es an der Tür. Wer wollte denn jetzt noch was?
Als sie sich öffnete, trat plötzlich Amika in den Raum. Auf ihrem Gesicht ein aufgesetztes Lächeln, und so winkte sie den beiden Brüdern zu. Na das war mal ein tolles Timing...
Was hatte sie hier verloren?
"Hey, ihr beiden", meinte sie sehr leise. "Störe ich euch gerade?"
Verwundert sahen die Brüder zu ihr. Das war ja fast wie gerufen.
"Äh... Du störst immer!", schlagartig änderte Steven wieder seine Persönlichkeit und verschränkte mit genervtem Blick die Arme. Er wollte nicht vor ihr zeigen, dass er innerlich verletzt war. Generell wollte er so etwas nie zeigen, Kyu war tatsächlich die erste Person bisher. Auch wenn er immer dachte, dass er ihm egal war. Spätestens als er realisierte, dass Lagrima ihn fast umgebracht hatte, bemerkte er, dass sein Bruder ihm doch mehr bedeutete als er je dachte.
"Was machst du wieder hier?", fragte Kyu sie und spürte bei ihrem Anblick wieder, wie es in seiner Brust mächtig stach. Gleichzeitig fühlte er sich aber etwas besser... Es war echt komisch...
"Ich, ähm...", Amika sagte nicht wirklich viel und sah sich in dem Raum um als sei irgendwas anders. Obwohl alles so stand wie immer, strahlte die Umgebung plötzlich etwas aus, was sich sonst anders anfühlte. Womöglich fand sie es einfach nur unangenehm hier zu stehen. "Ich wollte mich nur entschuldigen. Und... Naja, ich habe etwas für euch..."

"Schokolade?", schoss sofort aus Steven heraus. Mit einem leichten Kopfschütteln verneinte Amika seine Frage und kam unsicher zu ihnen. Sie schien etwas aufgewühlt zu sein.
Ohne was weiteres zu sagen, holte sie hektisch zwei Spritzen aus ihrer Handtasche und setzte sich dann neben Kyu auf das Bett. "Oh, du hast Drogen für uns? Du bist tief gesunken, Bennett..."
"Nein, keine Drogen!", das Mädchen lachte künstlich und legte eine der beiden Spritzen neben sich. Von der anderen entfernte sie eine Schutzkappe. "Damit wird euer Heilprozess um Tage, vielleicht sogar Wochen beschleunigt."
"Also Drogen", seufzte Steven. "Wie bist du an so etwas rangekommen?"
"Lange Geschichte, erzähle ich euch später", sie drehte sich zu Kyu um und deutete auf seinen Arm. "Mach mir mal bitte den Arm frei."
"Warte, warte", Kyu verstand die Welt nicht mehr. Irgendwie machte er sich Sorgen um sie. "Du kommst hier rein, ohne irgendwas zu sagen, und willst mir direkt irgendeine seltsame Spritze in den Arm drücken?!"
Was auch immer es war, es klang viel zu schön um wahr zu sein. Ein Mittel, mit dem der Heilungsprozess eines Knochenbruchs beschleunigt werden konnte? Davon hatte Kyu noch nie gehört! Was war in dem Mittel überhaupt drin und woher hatte sie das?
"Ich weiß gerade echt nicht, wie ich das erklären soll, okay?!", versuchte sie einer Diskussion aus dem Weg zu gehen. Ihr war anschaubar, dass sie einem Nervenzusammenbruch nahe stand. "Aber vertraut mir bitte mit dem Zeug. Ich hab's schon bei meinem Vater ausprobiert..."

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