32 - Totenkopf-Turmalin

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So schnell er konnte rannte er durch die schmalen Waldwege, welche ihn aus dem Wald bringen sollten. Das war schon seit einer halben Ewigkeit seine Hoffnung. Jede Abzweigung, welche er wählte, jede Entscheidung, die er treffen musste - es fühlte sich an als würde er sich jedes Mal falsch entscheiden. Es war als gäbe es für ihn keinen Ausweg. Jeder Meter, den er voran ging, schien ihm länger zu werden. Gab ihm das Gefühl, in einem Labyrinth gefangen zu sein.
"Du darfst nicht nach hinten sehen!", sagte er immer wieder zu sich selbst. "Du darfst nicht anhalten! Es ist hinter dir!"
Hinter sich hörte er das Rascheln in den Büschen, welche immer dichter wurden. Meter für Meter standen die Bäume dichter beieinander, ließen immer wenigere Sonnenstrahlen zu ihm herabfallen. Sie wurden immer höher. Oder... wurde er eher kleiner?
Noch nie war er so froh gewesen, solch eine Angst zu verspüren wie in diesem Moment. Diese Furcht, die in ihm brodelte, gab ihm einen gewissen Ansporn und den dazugehörigen Adrenalinkick. Genau die Ausdauer, die er brauchte.

"Wie lange renne ich schon?", für ihn fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Er hatte, seit er angefangen hatte zu rennen, nicht ein einziges Mal mehr angehalten, so wie er es sich geschworen hatte. Und vor gehabt, dieses Versprechen zu brechen, hatte er ebenso nicht. Er wusste, wenn er das tun würde, würde man ihn kriegen.
Nie hatte er nach hinten gesehen. Doch er wusste, dass ihn etwas verfolgte. Er spürte diese Anwesenheit in seinem Nacken. Die Blicke, die auf ihn fielen. Man machte sich über ihn lustig.
So mickrig. So alleine... Das Wispern aus den Tiefen des Waldes drosch auf ihn ein wie Fäuste.
Mit starrem Blick nach vorn gerichtet sprintete er weiter die Waldwege entlang, welche immer steiniger und schmaler wurden, so wie der Wald dichter. Doch es störte ihn nicht, er rannte einfach weiter. Bis er vor einer verlassenen Grabstätte zum Stehen kam... Verwuchert wie jeder einzelne Grabstein um sie herum.
Ein Friedhof, vergessen wie alles andere hier. Wie jeder Mensch, der hier begraben lag, bedeckt von Laub, Moos, Schimmel
und Ästen.

Eigentlich wollte er weiterlaufen. Doch das gigantische Kreuz aus Gestein hielt ihn gefangen in seiner Trance für wenige Sekunden.
Drei... vier...
Fünf Sekunden brauchte es. Fünf Sekunden, bis er sich endlich wieder lösen konnte. Verschnaufend drehte er sich auf seinen hacken und warf einen Blick auf das Mädchen, das etwa dreißig Meter von ihr entfernt stand.
"Komm schon! Fang mich doch!", hörte er ihre Stimme rufen, während sie auf ihn zulief.
Warum kam sie auf ihn zu, wenn er sie doch fangen sollte?!
Wie die Bäume blieb er wie angewurzelt stehen, während das Mädchen größer wurde, ihr Schatten länger wurde und bereits das junge Kind berührte.
Dann schloss er kurz die Augen, ließ sie einfach auf ihn zukommen. Die Schritte kamen näher.
"Fang mich doch!", wiederholte die Stimme. "Fang mich doch! Fang mich doch! Fang mich doch!"
Dieser Satz wieder sich immer und immer wieder in seinem Kopf ab wie eine Kassette, die man immer wieder zurück spulte, nur um diesen einen Satz zu hören. Und dabei nahm die Qualität ab. Die so schön klingende Mädchenstimme wurde verwaschener. Verzerrter, tiefer.

Als er wieder die Augen öffnete, stand er vor ihm, der Mann, der vorhin noch weit von ihm weggestanden hatte. In seiner Hand ein im Sonnenschein glitzerndes Messer.
Er sah zu dem Mann hoch. Sein kreideweißes Gesicht, sein breites Grinsen, die vor Blut triefenden scharfen Zähne, die roten Augen, die auf ihn herabschauten. Tief in seine Seele. Die sich so in seinen Kopf hereinbrannten, dass er nichts anderes mehr sehen konnte.
"Fang mich doch!", schon wieder dieser Satz, während ein dumpfer, kalter Schmerz durch seinen Magen fuhr. Seine Füße schienen vom Boden abzuheben... "Fang mich doch! Fang mich doch!"
Langsam öffnete sich der Mund der Kreatur so weit, dass seine Mundwinkel eigentlich hätten einreißen müssen. Doch das taten sie nicht. Langsam näherte sich sein Gesicht dem Schlund. Hier wusste er, dass es für ihn zu ende gehen würde...

"Fang mich doch! Fang mich doch!"

Panisch riss Kyu seine Augen auf und sprang nach oben, wodurch er aufrecht zum Sitzen kam. Jeder Muskel seines Körper war verkrampft wie jedes Mal, wenn er diesen scheiß Albtraum hatte! Nur dieses Mal machten ihm die Rippenbrüche gewaltig zu schaffen. Die Schmerzen waren definitiv erträglicher geworden. Womöglich war das nur Amikas Wundermittel zu verdanken. Dass die Schmerzen SO viel erträglicher wurden innerhalb von etwa 4 Stunden, war nicht möglich!
Und doch schmerzte diese krampfende Bewegung so sehr, dass er einen Schmerzensschrei nicht verhindern können. Er schrie wie schon lange nicht mehr. Leider konnte er es nicht rechtzeitig mit dem Kissen dämpfen... Vermutlich hatte er nun auch seine Eltern geweckt - und Steven, falls er wieder da war...
"B-b-bomby..?", winselte er keuchend und schaltete mit vorsichtigen, steifen Bewegungen sein Licht ein. Doch er war allein in seinem Zimmer. Tränenüberströmt, und das nicht nur vor Schmerzen.

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