27 - Alea iacta est

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"Okay...", weinend nickte Amika und wischte sich Tränen aus dem Gesicht. "Ich gehe... Und ich hole Hilfe, ja? Ich lasse dich nicht zurück!"
Und dann verließ das Mädchen den am Boden liegenden Mack. 
Er bemerkte den Klon neben sich hocken. Irgendwas schien er ihm erzählen zu wollen. Doch jedes einzelne Wort, das er sagte, klang für Mack verschwommen. Und so unfassbar leise...
Vielleicht war es aber auch besser, wenn er seine Kräfte nur noch für anderes einsetzte als für sein Gehör. Sein Blutdruck sackte bereits massiv ab, und das in nur wenigen Sekunden, was für ein eingetrübtes Bewusstsein sorgte. Er brauchte ihn nicht einmal zu messen, er spürte es einfach.
Er spürte das Blei, das sich einen Weg durch seine Blutbahnen schmuggelte und ihn innerlich schmutzig fühlen ließ. 
Erschöpft lehnte er seinen Kopf an die harte Betonwand und blies die Luft aus. Um ehrlich zu sein spürte er nicht einmal Schmerzen. Es war eher wie ein Schlag gegen die Stellen. Dafür spürte er die Fremdkörper in seinem Körper, genauso wie das Blut, das wie dickes Wasser über seinen Körper herabfloss. Ihn damit vollsaute und sich an seiner Haut und seiner Kleidung festsaugte.

"Alles wird gut...", wisperte er vor sich hin und kämpfte gegen eine eintretende Müdigkeit an, spürte dabei auch, wie Kyu nach seiner Hand griff. Noch einmal holte er tief Luft. War es nur er oder wurde die Luft hier unten echt dünn?
Irgendwie fühlte sich seine Umgebung plötzlich anders an als sonst. Diese Spannung in der Luft, diese Feuchtigkeit... Es war nicht mehr das gleiche!
Mack fühlte sich erschöpft... Ausgelaugt besser gesagt. Ja, das Wort traf es eher. Wobei... War das nicht eh nur ein Synonym?
Ohne seine Muskeln großartig zu benutzen ließ er seinen Kopf zu Joey rollen, der noch immer dort auf dem Boden lag. 
Was man wohl mit ihm macht, sobald man mich gefunden hat? Dass man einen Kerl wie Joey einfach dort liegen lassen würde, konnte er sich nicht vorstellen. Er gehörte weggesperrt! Das tat er schon immer... 
Bei dem Gedanken daran zog ein Stechen durch seine Brust, und er musste schlucken. Zwar vergingen gerade erst einmal zwei Minuten, in denen er alleine mit ihm in diesem miefenden Keller war. Doch es fühlte sich an wie eine halbe Ewigkeit.
Sekunde für Sekunde wurde die Müdigkeit stärker, und er fing an immer weniger wahrzunehmen. Seine Augenlider wurden schwerer, ihm war schwindelig und in seinen Ohren dröhnte ein Meeresrauschen, das definitiv nicht vom Meer kommen konnte. Das Rauschen hatte er schon die ganze Zeit über. Und es überdeckte jedes einzelne Geräusch.

Fühlte es sich etwa so an? War das das Gefühl, wenn man starb? Waren die Atemzüge, die er jetzt noch machte, vielleicht vollkommen für die Katz? 
Seine Augen fielen langsam zu. Sein Gesamter Körper verlor das Gefühl... Er fühlte sich nur noch wie eine leere Hülle seiner selbst. Krank und müde... 
"Ich muss Amika...", vor seinen Augen wurde alles schwarz, verschluckt von eiskalter Dunkelheit. ... vertrauen!

***

Benebelt öffnete Mack wieder seine Augen. Das allererste, was ihm auffiel war seine Haltung. Scheinbar war er während seinem Schlaf - oder eher Bewusstlosigkeit? - zur Seite gekippt und lag nun auf dem kalten Betonboden. Ein chlorhaltiger Geschmack hatte sich in seinem Mund festgesetzt, kombiniert in einem bitteren Hauch von Eisen, das seinen Körper über das Blut verließ. Aber diesmal hatte sich auch optisch etwas in dem Raum verändert... Vor ihm zum Beispiel lag ein gigantischer Haufen gelbschimmernder Sand. Und...
Joey!, schrie er. Zumindest dachte er es. Joey, wo bist du?!
Joeys bewusstloser Körper war verschwunden... Oh nein... Nicht schon wieder!
Mack wollte aufstehen und wegrennen, konnte es allerdings nicht. Er konnte seinen eigenen Körper nicht mehr bewegen. Was war denn jetzt los?!
Kurz darauf wurde es wieder schwarz und sein Gehör setzte erneut aus. Das letzte, was Mack hören konnte, waren seine verbitterten Schreie nach Hilfe.

***

"Okay, mein Junge", sagte Raymond und legte seinem Sohn einen Bumerang in die Hand. Dann begann er den Arm von Mack zu richten als spiele er mit einer Schaufensterpuppe. "Der Trick beim Bumerang werfen ist nicht nur der Wind und der Schwung. Du brauchst den richtigen Winkel!"
"Okay, ich versuch's mal...", Mack versuchte den Tipp seines Vater irgendwie umzusetzen. Sein Arm war bereits in der richtigen Position. Jetzt musste er nur noch sein Handgelenkt drehen um den richtigen Winkel zu finden, mit dem der Bumerang auch wieder zu ihm zurückkommen würde. 
Es war eine ihrer Lieblingsaktivitäten als sie vor ein paar Jahren immer gemeinsam Vater-Sohn-Tage machten. Schon seitdem Mack klein war brachte Ray ihm immer etwas neues bei. Das war einer der Gründe, weshalb Mack im Sportunterricht recht gut war. Er war körperlich fit! So wie Amika. Kyu hingegen... Naja. Er gehörte nie unbedingt zu dieser Art von Person, die gerne Sport trieb. Gut, Mack hielt seinen Körper auch nur gerade so in Form.
Kyu war dafür eher der ruhige Typ, der seine Zeit mehr mit Hausaufgaben, Zocken oder Zeichnen verbrachte. Und wenn er Stress hatte, dann machte er ihn sich nur selbst. Das machte aber jeder Mensch. Mack war schon immer der Ansicht, dass sich jeder nur selbst Stress machte. Jemand anders konnte wen anders unter Druck setzen oder ihn mit Aufgaben bombardieren. Wie die Person das aufnimmt, war allerdings allein ihre Sache. Man konnte viel Arbeit entspannt angehen. Oder man stresste sich eben.
Aber das fand Mack ganz und gar nicht schlimm. Im Gegenteil, er mochte Kyu einfach für seine Art.

Mit viel Schwung warf Mack den Bumerang in die Weiten heraus. Er sauste durch die Luft, entlang an Bäumen, durch den klaren, blauen und wolkenlosen Himmel, wieder zurück zum Jungen.
Raymond klatschte begeistert. Noch nie hatte Mack es geschafft einen Bumerang zu fangen. Bis zum heutigen Tag.
"Das war echt gut!", lobte Raymond seinen Sohn und strich ihm durchs Haar. Mack kratzte sich kurz an den Sommersprossen und lächelte Ray anschließend an. 

Etwa eine halbe Stunde später setzten sie sich an einen Fluss und entspannten. Das Wasser foss ruhig seinen Weg entlang, während die Fische friedlich mit dem Strom schwammen. 
"Papa?", Mack strahlte den Mann mit seinen grauen Augen an, während er mit seiner Hand durch das kühle Wasser fuhr. 
"Ja, Mack?"
"Es gibt so vieles, was ich dich fragen möchte. Ich hatte nie die Gelegenheit gehabt, da es sich alles erst nach deinem Tod ereignet hat."
Ray hob eine Augenbraue. "Was möchtest du denn fragen?"
"Zum einen...", zuerst überlegte Mack, wie er es am besten formulieren sollte. Sein Schluss: Er sollte es einfach gerade heraus fragen. "Warum hast du mir das mit Joey verheimlicht?"
Raymond schaute zuerst überrascht. Doch dann seufzte er. "Du hast es also herausgefunden..?"
Damit war es also offiziell, dass Joey die Wahrheit gesagt hatte.
"Er hat mich gefunden. An deinem Grab", erklärte Mack und beobachtete nun die Reflektion von sich selbst auf der Wasseroberfläche. "Ich bin nicht sauer oder enttäuscht. Aber... Warum hast du mir nie erzählt, dass du einen Mann hattest? Warum hast du mir immer von meiner Mutter erzählt, wenn ich nicht einmal eine hatte?!"

Ray senkte seinen Kopf. "Ich wollte nicht wie ein schlechter Mensch im Rampenlicht stehen, weil... Naja. Du kennst Joey mittlerweile ja..."
"Wegen ihm bin ich hier...", erklärte Mack und verstummte dann wieder.
In der Wasserreflektion konnte er Raymonds verdutztes Gesicht sehen. Der Schmerz war ihm offensichtlich anzusehen. So viele Gedanken durchströmten Raymond auf einmal. Wie konnte sein Mann nur seinen Sohn umbringen?!
"Ich möchte trotzdem, dass du weißt, dass ich stolz auf dich bin!", mit vollem Stolz schenkte der Sohn seinem Vater ein Lächeln. Es schien Wunder zu bewirken, denn auch Ray musste wieder lächeln. Vergaß plötzlich all seine Sorgen.
"Ich liebe dich, Mack."
"Ich dich auch, Papa."

Zufrieden lehnte Mack seinen Kopf an die Schulter seines Vaters und ließ seine Seele baumeln. Wie lange war es bloß her, wo er das konnte? Freudentränen liefen an seiner Wange herunter. Fühlten sich genauso wie das Blut an, nur angenehmer. Sauberer. Und statt dem Geruch von altem Chlorwasser roch er stattdessen die grüne, saftige Wiese und den Fluss. Klare, frische Luft, die um ihn herrschte. Das war also das Jenseits?
Wann war er das letzte Mal in den Armen seines Vaters? Wann hatte er es das letzte Mal wertgeschätzt und nicht als peinlich angesehen?
Auch wenn sein Vater manchmal nerven konnte, war es noch immer sein Vater. Ein Vater, der sich wenigstens um sein Kind kümmerte. Vielleicht war der Tod ja wirklich nicht so schlecht, wie er dachte? Vielleicht war es endlich seine Chance gewesen, wieder mit geliebten Menschen zusammen zu kommen...
Und er war froh, endlich wieder mit ihm Zeit verbringen zu können...

Plötzlich bewegte sich etwas unter der Wasseroberfläche. Es sah aus wie eine dicke Schicht Algen. 
"Hm?", verwundert sah Mack es sich an und rutschte etwas näher an den Fluss. Mit seiner Hand tauchte er vorsichtig und langsam ab. Und dann wickelten sich die Algen bis zum Ellenbogen um seinen Arm, zerrten ihn plötzlich in das Wasser. Schockiert fiel er in den Fluss und wurde seinem Vater entrissen - mal wieder...

"Mack!", schockiert kniete sein Vater sich vor das Ufer des Flusses und griff nach der Hand seines Sohnes, der in die Tiefen gezogen wurde. Mack konnte gerade so die Fingerkuppen seines Vaters mit seinen eigenen Berühren. Doch es reichte nicht aus...
Schon verlor er ihn wieder. Wurde hinunter in einen unendlich tiefen Fluss gezerrt. Egal wie sehr er sich wehrte, es half nichts. Er musste dabei zusehen, wie sein Vater über ihm immer kleiner wurde.
Zumindest hatte er keinen Druck auf der Brust. Er spürte das Wasser um sich herum, doch er konnte normal weiteratmen. Ohne, dass das Wasser in seine Lungen geriet...

Von Angst erfüllt kniff er die Augen feste zusammen und atmete tief ein und aus. 
Das ist nicht real. Das ist nicht real! DAS IST NICHT REAL!
Und dann riss er die Augen wieder auf. Das Wasser war vollkommen verschwunden. Das um ihn herum spärliche Licht ließ ihn erkennen, dass er sich in einem Bett befand. Statt einem Fenster befand sich dort eine Wandöffnung, verschlossen mit Gitterstäben. Ranken wickelten sich um diese herum. Irgendwie hatte dieser Raum eine gewisse royale Ausstrahlung. Fast wie eine Burgruine.
Wo bin ich?!

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