| 4 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬

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Ich fühlte mich unglaublich gerädert und alles andere als erholt, als ich aufwachte. Mein ganzer Körper schmerzte von meiner unvorteilhaften Schlafposition und orientierungslos drehte ich mich auf die andere Seite. Ich wollte nur wieder einschlafen.

Doch dann tauchten plötzlich Bilder vor meinem inneren Auge auf. Tote Körper und blutverschmierte Wände.

Erschrocken fuhr ich hoch und sah mich mit großen Augen im Wohnzimmer um. Licht schien durchs Fenster und erhellte den Raum unangenehm. Es war scheinbar später Nachmittag. Genervt kniff ich meine Augen zusammen, legte den Kopf wieder aufs Kissen und stieß die Luft laut aus. Meinen rechten Arm platzierte ich über meinen Augen, da meine Augenlider nicht genug vor der grellen Sonne schützten.

War das letzte Nacht wirklich alles passiert?

Es kam mir alles so unwirklich vor. Man würde meinen, dass wenige Stunden nicht in der Lage waren eine Lebenssituation so zu beeinflussen, doch scheinbar ging es doch. Innerhalb kürzester Zeit wurden zwei Gangs vernichtet. Unzählige Leute getötet. Und die Zukunft der Verbliebenen stark beeinträchtigt.

„Na? Gut geschlafen," hörte ich Ryan plötzlich mit vor Sarkasmus triefender Stimme murmeln, der die offene Tür zu seinem kleinen Zimmer zumachte und in den Raum kam.

Ohne die Augen zu öffnen, erwiderte ich, „Geschlafen? Ja. Gut? Nein."

„Da sind wir schon zu zweit", lachte mein Mitbewohner und als ich seine näher kommenden Schritte hörte, öffnete ich meine Augen einen Spalt. Der Braunhaarige stellte sich ans einzige Fenster im Raum und sah hinaus. Das zu große Shirt, welches er trug, hing schlaff hinunter und wirkte genauso kraftlos wie ich mich fühlte.

Auf einmal klingelte es an der Tür.

Ryan drehte seinen Kopf zurück zu mir und sah mich fragend an, doch ich zuckte nur mit den Schultern. Als es dann wieder klingelte, stöhnte Ryan genervt auf und lief zur Tür. Ich setzte mich derweil auf, warf die Decke von mir und gähnte einmal herzhaft.

„Hey", erklang Matts Stimme, der das Wohnzimmer betrat. Ich nickte ihm nur zu.

Die Beiden liefen in den Küchenabteil und während ich ins Bad ging, sah ich noch wie Ryan die Kaffeemaschine anmachte.

Eine heiße Dusche würde hoffentlich helfen beim Wachwerden. So stieg ich hinein und ließ das warme Wasser über meinen Körper prasseln. Dabei fühlte ich mich wie der Hauptcharakter irgendeiner Serie, der gerade eine heftige Niederlage erlebt hatte. Und irgendwie war es doch auch so? Ich war der Hauptcharakter meines Lebens.

Die erdrückende Stimmung wurde auch nicht gerade besser als ich das Bad wieder verließ. Frische Sachen nahm ich mir mal wieder von Ryan, da ich nach dem Rauswurf zu wenig hatte.

Ich hatte gerade wieder die Tür zu Ryans Zimmer geschlossen, da sah ich die beiden in einer engen Umarmung. Sie klammerten sich aneinander als hätten sie Angst, dass sie jemand trennen könnte. Doch bei näherem Hinsehen erkannte ich, dass Matt seine Augen geschlossen hatte und Ryan seinen Herzensbruder scheinbar tröstete.

„Vielleicht hat Miles ja recht", murmelte Matt und irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen.

„Mit was?" Ich kam näher und Ryan drehte seinen Kopf zu mir.

Auch Matt sah nun zu mir und löste sich schnell von seinem besten Freund. Wir mochten vielleicht befreundet sein und einer gemeinsamen Gang angehören, aber einen Moment der Schwäche wollte er sich scheinbar in meiner Gegenwart nicht eingestehen. „Es wäre besser für die Hydra wenn wir die Drogengeschäfte an den Nagel hängen", erklärte er und ich sah ihn überrascht an. „Dann haben wir vielleicht noch eine Chance. Wir verdienen mit dem Waffenhandel und den Straßenrennen genug."

„Aber genug um unsere ganzen Kosten zu decken?", bemerkte Ryan zweifelnd.

Matt zuckte mit den Schultern und sein Gesichtsausdruck wurde dunkler. „Wir sind jetzt ohnehin weniger und könnten uns mehr auf die anderen Dinge konzentrieren."

„Das entscheidet Jackson", seufzte ich. „Hast du eigentlich schon was vom ihm gehört?"

Der Braunhaarige schüttelte den Kopf. „Nein. Aber er wird uns schon noch Infos geben."

„Hm." Schweigend sahen wir in der Gegend umher. Keiner hatte Worte für die kuriose Situation oder wusste, wie es weitergehen sollte, weswegen ich einfach fragte, „Soll ich mal zu ihm rausfahren?"

„Zu Jackson? Der schläft sicher noch", widersprach Ryan. „Ruf ihn doch einfach an, dann wacht er schon auf", schlug er vor.

Doch ich war mir da nicht so sicher. Mit einer unerwarteten Entschlossenheit lief ich in den kleinen Flur und zog mir meine Jacke und Schuhe an. „Kann ich deinen Schlüssel haben, Ryan?", wollte ich wissen, um nachher nicht klingeln zu müssen.

„Ja, mach nur", entgegnete er. Doch bevor ich im Treppenhaus mit seinem Schlüssel verschwinden konnte, hielt er mich noch einmal auf. „Aber mach ja vorsichtig. Die Bullen sind aufmerksamer als sonst und wir haben keine Ahnung wie im Moment die Lage ist."

Ich nickte ergeben. „Klar."

Die Tür knallte hinter mir zu und für einen Augenblick, indem ich allein in dem großen Flur stand, war ich mir gar nicht mehr so sicher ob ich wirklich hinaus wollte. Allein. Nach dieser Nacht. Kurz spielte ich mit den Gedanken einfach wieder umzukehren oder Ryan um Begleitung zu bitten. Doch als mein Gehirn mir die Peinlichkeit der Aktion zeigte, verwarf ich den Gedanken schnell und eilte die Treppen hinunter. Den Fahrstuhl würde ich wohl niemals freiwillig benutzen!

Meine Yamaha hatte zum Glück noch genug Benzin und mit einer ungewohnten Vorsicht fuhr ich durch die große Stadt. Meine Augen scannten dabei sämtliche Autos ab.

Dann stellte ich mir plötzlich die Frage, was wohl mit meinem Onkel war. War er bei dem Einsatz gewesen? Am Ende dachte er noch, dass ich tot sei. Mich kraute es bei dem Gedanken daran. Wir hatten doch nur noch uns. Auch wenn mein Verrat uns getrennt hatte, so waren wir noch immer Verwandte und die Tatsache, dass er mich nicht angezeigt hatte, zeigte, dass ich ihn nicht unwichtig war.

Aber trotz alle dem musste ich der Wahrheit ins Auge blicken und akzeptieren, dass ich mich gegen ihn entschieden hatte.

In der Gegend, in der Jackson wohnte, war unglaublich viel los. Der Nachmittagsverkehr war stärker denn je. Durch den Vorfall beim Plaza mussten viele, wegen der gesperrten Straßen, Umwege nehmen und das ging nicht nur auf meine Nerven. Hupende Autos und genervt durch die Scheiben blickende Leute. Eine komische Atmosphäre, die ich schlecht beschreiben konnte lag in der Luft und bei einigen Leuten konnte man auch klar die Angst erkennen.

Der Anschlag war wahrscheinlich schon in allen Medien bekannt.

Gereizt, ein wenig hoffnungslos und müde kam ich in der Tiefgarage zum Stehen. Die Kühle hier unten ließ mich trotz Jacke erschaudern und schnell lief ich, den Fahrstuhl wieder meidend, die Treppe hoch. Ein Unding, dass Jackson so weit oben wohnen musste. Vor seinem Apartment musste ich demnach erst einmal verschnaufen, ehe ich klingelte. Wenn ich ihn dadurch wirklich geweckt haben sollte, könnte ich mir aber was anhören.

Eine Zeit lang passierte gar nichts, doch dann vernahm ich leise Schritte und die Tür vor mir ging auf. Mein Blick wanderte etwas nach oben und schon stand ich meinem schlecht gelauntem Anführer gegenüber, der nichts als eine Boxer trug und mich, als seinen persönlichen Wecker, finster musterte.

RIDERS ~ Lost MemoriesWhere stories live. Discover now