| 20 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬

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Wie gebannt sah ich durch den Spiegel die Maschine an. Konnte es sein, dass- Eine ruckartige Bewegung ging durch den Lenker und riss ihn dank meiner Unaufmerksamkeit zur Seite. Wahrscheinlich war ich über einen kleinen Stein oder Gullideckel gefahren, was bei der hohen Geschwindigkeit nicht wirklich angenehm war.

Zwar reagierte ich noch rechtzeitig und konnte einen Zusammenstoß mit dem Gegenverkehr verhindern, doch durch mein Gegenlenken kam ich von der Fahrbahn ab.

Ich sah bereits Matts entgeistertes Gesicht vor mir, weil ich meine R6 erneut zerstörte. Schmerzhaft biss ich mir auf die Lippe als ich über den, zum Glück abgesenkten, Bordstein schoss und durch die Fußgängermenge fuhr. Kreischend sprangen sie zurück und eilig trat ich auf die Bremse. Nur nicht fest genug, denn ich wurde kaum langsamer.

Um niemanden umzufahren, fuhr ich in eine der Seitenstraßen. Eine Sackgasse.

Erschrocken ging ich voll in die Eisen, nutzte dabei kaum die Hinterradbremse und riss dementsprechend meine Augen auf, als mein Bike leicht hinten hochkam. Mit genügend Gegendruck und Bremskraft, schaffte ich es gerade so wieder auf beiden Rädern zum Stehen zu kommen, bevor ich noch an der Wand zerschellte.

Zittrig stieß ich die Luft aus und starrte an die dunkle Wand vor mir. Das war ja mal mehr als knapp!

Meine Arme hielten krampfhaft den Lecker fest, dabei spürte ich seit langem mal wieder meine Armmuskeln, die sich über die Tour beschwerten und erleichtert richtete ich mich auf. Drückte den Rücken durch, ballte meine Hände zu Fäusten und schloss meine Augen. Ich war noch heil. Meine Yamaha war noch heil. Also alles gut.

Doch weit gefehlt. Das laute Brummen des Motors, der mich erst so aus der Fassung gebracht hatte, klang in der engen Gasse noch stärker und ließ mich in den Rückspiegel sehen.

Mein Verfolger trug einen Helm mit verdunkeltem Visier, so konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Die BMW brachte er einige Meter hinter mir zum Stehen, stieg ab und sah mich an. Den Kopf dabei leicht zur Seite gelegt, als könnte er meinen Anblick kaum glauben. Das Licht, welches auf mich schien, erschwerte mir die Sicht und mit steigendem Puls überlegte ich meine nächsten Schritte.

Beinahe automatisch nahm mein Körper eine selbstbewusste Haltung an und stieg vom Motorrad.

Gegenseitig blickten wir uns eine Weil lang an. Schweigend. Nur irgendwas ließ mich stocken. Die Körperhaltung, die Kleidung, das Motorrad... Das ganze Auftreten einfach kam mir unheimlich bekannt vor. Vertraut. Fast schon heimisch. Und genau in dem Moment, als mein Kopf die Puzzleteile zusammensetzte und sich meine Augen erschrocken weiteten, nahm mein Gegenüber den Helm ab.

„Miles?"

Nur ein Wort. Aber es war genug, um mir beinahe einen Nervenzusammenbruch zu bescheren. Wie lange hatte ich diese Stimme nicht gehört? Monate? Unweigerlich spürte ich die Nässe in meinen Augen und kniff sie zusammen. Zwar konnte er mich unter meinem Helm nicht sehen, aber ich wollte mir die Blöße nicht geben und anfangen zu heulen.

Langsam machte er einen Schritt auf mich zu. Als habe er Angst mich zu verschrecken.

Darüber musste ich beinahe lachen und als mir tatsächlich ein glucksender Laut entkam, hielt er inne. Seine treuen, grauen Augen sahen mich aufmerksam an und die hellen Locken waren deutlich länger als bei unserer letzten Begegnung. Er sah älter aus. Nicht im wortwörtlichen. Eher, als habe er zu wenig geschlafen.

„Ich wusste, dass-"

Er unterbrach sich selbst als auch ich meinen Helm abnahm. Mit geweiteten Augen beobachtete er jede meiner Bewegungen und als ich anfangen wollte mit sprechen, schnellte er nach vorn und warf sich mir um den Hals.

Überrascht taumelte ich einige Schritte nach hinten, spürte an meinen Oberschenkeln bereits meine Maschine, doch all das war mir im Moment egal. Seine plötzliche Anwesenheit hatte ohnehin jeden klaren Gedanken verpuffen lassen. Schließlich wäre ich wegen ihm beinahe gegen eine Hauswand gefahren. Seufzend legte ich meine Arme um seinen Rücken, drückte ihn an mich und genoss mit geschlossenen Augen einfach den Moment. Unser Wiedersehen.

Sein Geruch und das Gefühl, welches sein Körper in meinen Armen auslöste, kannte ich nur von Zuhause. Niemand hier hatte mir diese Geborgenheit schenken können. Ich hatte meinen besten Freund wieder. Ein Stück Heimat.

Das Zeitgefühl hatte ich verloren, wir standen bestimmt ewig so da, doch dann löste er sich plötzlich von mir und gab mir eine Ohrfeige, die es ganz schön in sich hatte.

„Weißt du eigentlich, was für Sorgen ich mir gemacht hab?!"

Überfordert versuchte ich die kleinen Sterne wegzublinzeln. „Kian-"

„Und weißt du, was du gemacht hast?!", regte er sich weiter auf, trat einen Schritt zurück und sah mich mit Tränen in den Augen an. „Du bist einfach verschwunden! Hast dich nicht mehr gemeldet. Bei keinem von uns! Als wären wir dir völlig egal. Du hast uns einfach verlassen... Du hast mich einfach verlassen." Zum Ende hin wurde er immer leiser und als er sich gestresst durch die Haare fuhr, überkam mich die riesige Flut an Schuldgefühlen.

Besänftigend hob ich die Hände. „Bitte, lass es mich erklären."

Verletzt sah er mir wieder in die Augen, doch ich wusste bereits in dem Moment, dass ich gewonnen hatte. Seine Sehnsucht war größer als seine Wut. „Wehe du lässt auch nur ein kleines Detail aus", knurrte er.

„Du bekommst die ganze Story, versprochen."

Für einen Moment sagte er nichts, doch dann grinste er mir leicht entgegen. „Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dich vermisst hab", murrte er und umarmte mich erneut. Dieses Mal weniger stürmisch und friedlicher. „Und du hast auch keine Ahnung, was du alles verpasst hast..."

Fragend hob ich eine Augenbraue. „Was denn alles?"

Ein Lachen schüttelte seinen Körper und mit den Händen auf meinen Schultern drückte er sich von mir weg und sah mich an. „Glaub mir, in den paar Monaten kann viel passieren."

„Oh ich glaub, das musst du mir nicht sagen", grinste ich und dachte mit Wehmut an die letzte Zeit.

„Wie?"

Meine Mundwinkel sanken automatisch nach unten. Er hatte keine Ahnung, wie ich derzeit lebte. Und er wusste auch nichts von der Hydra. Genauso wenig wie die Hydra von meiner alten Gang. Als dieser Gedanke sackte, verschwand die Leichtigkeit von eben und machte einer schmerzhaften Schwere Platz.

„Wo bist du untergekommen?"

Verwirrte zog er die Augenbrauen zusammen. „Wieso?"

„Weil wir uns glaube viel zu erzählen haben..." Damit wandte ich den Blick ab und sah wieder zur Straße. Was auch immer mit meiner alten Gang passiert war und wie Kian es hier hergeschafft hatte, wusste ich nicht. Aber ich wusste, das die Nacht noch längst nicht vorbei war.

RIDERS ~ Lost MemoriesWhere stories live. Discover now