| 47 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬

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„Und wie soll es dann weitergehen?", wollte ich aufgebracht wissen. „Wir kommen dann an und sagen 'yeah, wir leben ja doch' und dann ist alles gut?! Wie soll ich das mit meinem Gewissen vereinbaren? Ich kann doch nicht mit ihnen zusammen in einer Wohnung leben und einfach so weitermachen, mit dem Wissen, was wirklich passiert ist!"

Verärgert hob Kian leicht das Kinn. „Bisher konntest du doch auch damit leben."

Gestresst fuhr ich mir durch die Haare. „Das war was anderes." Nervös machte ich einen Schritt zurück. „Einen Tod vorzutäuschen ist eine komplett neue Ebene."

„Mit dem Unfall und deinem Kontaktabbruch hast du deinen Tod uns gegenüber auch indirekt vorgetäuscht", hielt Kian dagegen.

„Hätte euch mein Überleben wirklich interessiert, hättet ihr länger nachgeforscht."

Kian schien eine Sicherung durchzubrennen. „Ja, wie denn?! Weißt du eigentlich wie lange ich nach dir gesucht hab? Wir wussten nicht einmal in welchem Krankenhaus du bist und woher zum Kuckuck hätten wir bitte ahnen sollen, dass du zu deinem Onkel nach San Diego ziehst - ans andere Ende des Kontinents?!"

Ich ließ den Kopf sinken. Starrte auf den sandigen Boden.

Kian hatte natürlich recht. Vollkommen recht. Ich hatte Fehler gemacht. Viel zu viele davon und jetzt kam alles auf einmal. Und das einzige was es geradebiegen konnte war die fucking Wahrheit. Aber die würde mich in den Abgrund stoßen. Bis auf Kian wusste im Augenblick niemand was Sache war. Und mein Onkel.

„Okay", gab ich schließlich nach. Ich hatte keinen besseren Plan und uns lief die Zeit davon. „Aber wie willst du das anstellen? Und wie erklären? Die Hydra wird Fragen stellen und selbst, wenn sie dich gar nicht erst mit der Armenia in Verbindung bringen, wird dein Beitritt nicht einfach werden."

„Sowas habe ich mir schon gedacht, aber keine Sorge", beschwichtigend grinste er mich an. „Ich bin zu ziemlich allem bereit."

Ich nickte. „Und wo willst du untertauchen?"

Nachdenklich verschränkte Kian die Arme, machte dabei einige Schritte auf die alte Halle zu. „Wir müssen in der Nähe bleiben, damit wir wissen, wann die Armenia wieder weg ist. Außer wir haben einen Informanten." Dann schoss sein Blick begeistert zu mir. „Ich weiß wo wir untertauchen. Auf meinem Trip hierher bin ich an einer Raststätte vorbeigekommen. In Arizona. Ich kenn den Besitzer oder so. Zumindest so halb."

Wenig überzeugt zog ich die Augenbrauen hoch. „In Arizona? Das ist doch viel zu weit weg! Und wie kann man bitte jemanden halb kennen?"

Grinsend zuckte er mit den Schultern. „Wir haben uns ein bisschen unterhalten. Er ist auch Motorradfreund und da gibt's ne Tankstelle. Bis auf ein kleines Touristencenter oder so ähnlich ist da nichts weit und breit. Blanke Wüste, der perfekte Ort für uns", versuchte er es mir schmackhaft zu machen.

„Und wie weit ist dein perfekter Ort genau entfernt?"

Unwillig wandte er den Blick wieder ab. „Naja... ungefähr etwas über 200 Meilen."

„Über 200 Meilen?!"

Der wollte mich doch verarschen! Das war nicht nur in einem anderen Bundesstaat, das war ja gefühlt am anderen Ende von allem hier! Da kam man nicht einfach mal so hin. Wie sollten wir die Geschehnisse hier im Augen behalten? Entmutigt fuhr ich mir durchs Gesicht.

„Komm schon, Miles", raunte Kian verschwörerisch. „Da findet uns keiner und wir sind sicher."

„Ist ja auch nur ein Katzensprung entfernt."

Lachend legte er einen Arm um meine Schultern und zog mich mit sich ins Innere der Halle. Deutete auf unsere Motorräder, die durch das fehlende Tor zu sehen waren. „Wir zwei Biker, wie in alten Zeiten. Zwei Junggesellen im alten Westens Arizonas. Die trockene Wüste. Nur die Wildnis, der Duft nach Benzin und unsere Freiheit!"

„Setzen wir dann beim Fahren auch Cowboyhütte auf und schleppen einen Revolver mit uns herum?"

„Wenn du das möchtest", Glücklich knuffte er mich in die Seite. „Du wirst schon sehen, dort vergessen wir all unsere Sorgen. Leben in den Tag hinein, vielleicht können wir an der Raststätte oder der Tankstelle arbeiten... oder im Touristencenter, völlig egal. Aber wir sind unabhängig und kommen wieder, wenn Gras über die Sache gewachsen ist."

„Klingt ja fast so als hätten wir eine Bank überfallen oder jemanden ermordet."

Kian zog die Augenbrauen hoch. „Haben wir ja auch. Nämlich uns."

Seufzend legte sich mein Blick auf meine Yamaha. Die R6 strahlte im Sonnenlicht wie und je, die wenigen Kratzer an der Verkleidung taten ihrer Schönheit nichts und dennoch musste ich immerzu an die Hydra denken. Sie hatten sie getunt. Manche der Teile hatten sie bezahlt und montiert. Es war eine Art Willkommensgeschenk. Und somit eine ständige Erinnerung an die Gang, ohne die mein Motorrad jetzt nicht so aussehen würde.

Allein bei dem Gedanken an eine Flucht brach mein Herz. Die Vorstellung, wie die Hydra einen weiteren Tod aus ihren eh schon kleinen Reihen verdauen musste, war grausam.

„Ich sehe, dass du dich schwer tust, Miles", murmelte Kian. „Aber wir haben keine andere Wahl."

Für einen Moment schloss ich die Augen. „Gibt es keinen anderen Weg?"

„Momentan nicht, sonst wäre uns noch etwas anderes eingefallen."

Innerlich gab ich ihm Recht. Dank Tyler war die Jagd seitens der Armenia nun auf uns eröffnet. Uns blieb keine Zeit und die Armenia musste wieder weg. Zurück nach New York. Also stimmte ich notgedrungen zu. „Okay, wir ziehen das durch. Aber auf meine Art."

Zufrieden zuckten Kians Mundwinkel. „Das bedeutet?"

„Wir weihen meinen Onkel ein." Ihn konnte ich nicht anlügen und wir brauchten Informationen direkt aus San Diego. Und ein Backup. „Zweitens wir werden die Hydra nicht im Stich lassen. Wir bleiben in Arizona und warten. Nicht, dass du am Ende mit der Idee kommst, einfach abzuhauen und woanders neu anzufangen, weil es ohnehin keinen Sinn hat. Es wird durchgezogen!" Mechanisch nickte er. „Und... ich entscheide, wie wir sterben."

„Geht klar!" Erleichtert über meine Entscheidung stieß er die Luft aus. „Das mit deinem Onkel gefällt mir zwar überhaupt nicht, aber wie gesagt, wir haben kaum eine andere Wahl."

Zufrieden nickte ich.

Nachdenklich lief ich zu meinem Schlafplatz und sammelte meine Sachen zusammen. In San Diego glaubte ich eine Heimat gefunden zu haben, ebenso wie bei der Hydra. Doch nun verließ ich schon zum zweiten mal meine Stadt und meine Gang. Wie ein einsamer Wolf auf Wanderschaft. Aber dieses Mal war es anders. Ich war nicht allein und würde wieder zurückkommen.

RIDERS ~ Lost MemoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt