| 45 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬

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Eine Stunde. Das war nicht viel Zeit. Nur eine kurze Möglichkeit alle Optionen abzuchecken und dann die ersten Schritte einzuleiten, dann würde die Jagd beginnen. Fast eine halbe Stunde hatten wir schon verloren dank der Rückfahrt vom Memorial und den widerlichen Großstadtverkehr. Nachts waren die Straßen zwar lichter, aber dennoch nicht immer frei.

Im Rückspiegel sah ich Kians auffallend gelbe BMW und der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war, dass wir neue Motorräder brauchten. Die BMW und meine strahlendblaue R6 waren bekannt. Bei den Gangs und den Straßenrennfahrern. Man würde uns erkennen.

Die Erkenntnis, dass ich bereits an Flucht dachte, sackte wie ein schwerer Stein in meiner Brust und drohte mich mit nach unten zu ziehen.

An einer Ampel hielt ich notdürftig an. Es war grün, doch ich musste mich kurz sammeln. Wir hatten nicht mehr viel Spielraum und sollten rational denken. Schließlich ging es um unser Leben. Autos hinter mir begannen zu hupen und drängten sich ungeduldig an mir vorbei. Doch ich schaltete nur in den Leerlauf und stützte meine Arme müde auf den Tank.

Ein weiteres Hupen ließ mich aufschrecken. Kian stand neben mir am Straßenrand und winkte zu sich herüber. Seufzend stellte ich mich neben ihn.

„Alles klar?", fragte er und klappte das Visier hoch.

Ein Lachen konnte ich mir nicht verkneifen. „War die Frage ernst gemeint?"

„Hast recht." Kurz wandte er den Blick ab, als würde er mit sich ringen, dann traf sein Blick den meinen. Entschlossen und furchtlos. Wie in alten Zeiten. „Lass uns durchbrennen."

„Was?"

„Du hast mich schon verstanden", entgegnete er nur und spielte fast schon abenteuerlustig am Gas. „Hier können wir nicht bleiben, wir werden gejagt, Mann. Wenn die uns finden, sind wir dran und ich hänge noch dezent an meinem Leben." Aufmunternd schlug er mir auf die Schulter. „Lass uns abhauen. Irgendwohin wo uns niemand kennt. Da sind wir sicher, zumindest eine Weile. Und wir haben immer noch uns", versuchte er mich zu überreden.

Der Funken seines Optimismus sprang jedoch nicht auf mich über. „Und was ist mit der Hydra?"

„Deiner Gang?" Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Denkst du die werden dir helfen, wenn es hart auf hart kommt? Wenn sie von der Armenia erfahren?" Ich zögerte. „Siehst du, da hast du es. Wenn wir sie einweihen, sind es am Ende zwei Gangs, die Jagd auf uns machen und uns tot sehen wollen. Ich halte das für keine gute Idee. Verletzter Stolz ist das eine, aber Verrat..."

Niedergeschlagen ließ ich den Kopf hängen. Ich hatte nicht die Kraft für solch eine Unterhaltung. „Und was dann? Werden wir dann für immer auf der Flucht sein? Abhauen?"

„Nein, irgendwann vergessen sie es und lassen gut sein. Die Wut muss erst abklingen und das Feuer zur Glut werden."

„Aber Glut ist immer noch heiß... und kann wehtun."

Gereizt trommelte er auf dem Tank herum. „Nimm es nicht wortwörtlich." Sein Blick fand wieder meinen. Die grauen Augen vertraut. Aber die Angst ließ mich erschaudern. „Schau, ich hab auch Angst. Ich scheiß mir gleich ein, aber damit kommen wir nicht weiter. Wir brauchen eine Lösung und das schnell. Sehr schnell! Flucht ist die beste Wahl."

„Aber dann werden wir nie aufhören uns umzusehen. Wir werden immer mit dem schlimmsten rechnen und ruhig schlafen kann ich dann auch nicht mehr... was ist das für ein Leben?"

„Ein lebendiges. Und nicht zerstückelt irgendwo unter der Erde oder in einem Seitengraben."

Ich versuchte Ruhe zu bewahren. Kian und ich hatten selten Meinungsverschiedenheiten und wenn, konnten wir die schnell beseitigen. Doch unter Zeitdruck ging das nicht so einfach. Und mein Herz schlug vor Nervosität so schnell als wolle es einen Rekord brechen.

„Kian...ich kann hier nicht weg", versuchte ich ihm klarzumachen.

Fragend sah er mich an. „Was hält dich hier noch bitte?!"

„Ich habe Verpflichtungen. Aufgaben. Wir haben schon so viele Mitglieder verloren, ich kann jetzt nicht gehen. Jackson vertraut mir. Sie brauchen mich. Er braucht mich. Da kann ich doch jetzt nicht wie ein feiger Hund das Weite suchen. Wieder einmal!"

„Das nennt sich Überlebensinstinkt. Und überhaupt, du hast sie ohnehin schon angelogen. Wissen sie von der Armenia? Ich denke nicht. Ihr Vertrauen hast du schon missbraucht und tot bringst du ihnen nichts. Also lass uns-"

„Nein." Entschieden richtete ich mich auf. „Ich werde nicht noch einmal meine Gang im Stich lassen und einfach so verschwinden. Wenn du das gerne tun willst, dann bitte. Aber ich gehe nicht. Auch, wenn das sehr wahrscheinlich ein Fehler ist. Ich muss das vor mir verantworten können und ein Leben auf der Flucht bringt mir keinen Frieden."

Für einen kurzen Moment herrschte Stille und ich glaubte schon, dass Kian einfach wegfahren würde, doch er blieb. Schaltete den Motor ab, setzte sich aufrecht hin und stieß die Luft aus.

Dann streckte er den Rücken durch und sah nach hinten die Straße hinauf. „Ich hatte eigentlich vor meinen nächsten Geburtstag noch zu erleben... Nur kann ich dich nicht allein lassen." Brüderlich schlug er mir gegen den Oberarm. „Wir sind Brüder, deine Worte. Und du hast recht. Flucht ist eigentlich nur eine Verzögerung. Keine Lösung. Außerdem, was soll ich bitte ohne dich im Exil?"

Lachend zuckte ich mit den Schultern. Sah ihm anschließend tief in die Augen.

Es waren keine weiteren Worte nötig. Kein Danke. Er wusste exakt was in mir vorging und fühlte genauso wie ich. Wir waren eins in dieser Nacht. Wir wuchsen enger zusammen denn je und das erste Mal seit langem fühlte ich mich wieder sicher. Absolut unpassend in unserer Situation.

„Was schlägst du dann vor?"

Gute Frage. „Vielleicht mal mit offenen Karten spielen? Die Wahrheit soll bekanntermaßen befreiend sein. Und das suchen wir doch, oder?"

„Freiheit? Na, eigentlich ja das Leben. Aber gut, ich bin für alles bereit. Sterben werden wir doch sowieso", antwortete er und startete erneut den Motor. „Fahr voraus, ich folge dir. Wohin du auch fährst."

Nickend nahm ich dies zur Kenntnis und machte mich für die Weiterfahrt bereit. Mit der Wahrheit war es so eine Sache. Aber sie war unausweichlich. Die Armenia wollte uns tot sehen und die Hydra hätte die Mittel uns zu beschützen, zumindest eine Zeit lang. Nur würden sie uns eigenhändig umlegen, wenn sie alles wüssten.

Heute Nacht brauchten wir einen sichern Ort zum Schlafen. Denn Flucht war nicht drin. Und denken konnte ich nur bei klarem Verstand.

So führte mich der Weg zu einem altbekannten Ort. Der verbrannte Geruch stieg mir schon von weitem in die Nase, obwohl der Brand lange her war. Zu dieser Halle hatte ich keinen Bezug, doch es war der einzige Ort, der mir einfallen wollte. Meinen Onkel wollte ich schließlich nicht in Gefahr bringen. Im Schutz der Dunkelheit schlichen wir in die alte Ruine und hofften, dass der nächste Tag nie anbrechen würde.

*****

Wie hättet ihr an der Stelle von Miles und Kian entschieden? Schreibt es gerne in die Kommis und vergesst das Sternchen nicht :)

RIDERS ~ Lost MemoriesTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang