| 43 | 𝐊𝐢𝐚𝐧

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Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären was mich dazu getrieben hatte, dass ich mich nun mit Miles traf. Und dennoch stand ich hier. Lehnte mich an meine BMW, starrte in die Nacht und atmete die kühle Luft ein. Hier oben war sie klar und frisch, ganz anders als unten im Getümmel der Stadt, die nun beinahe friedlich vor mir lag.

Ein bekanntes Motorengeräusch näherte sich und ich schloss für einen Moment die Augen, um meinen Ärger zu unterdrücken.

Den Ort des Treffens hatte Miles ausgewählt. Mir war er komplett fremd. Aber die seltsame Energie, die hier oben deutlich spürbar war, passte hervorragend zu meiner Gefühlslage. Ich fühlte mich unwohl. Wie ein Verräter, weil ich mich mit dem Feind traf. Denn genau Das war Miles ab jetzt für uns. Auch, wenn-

„Hey."

Erschrocken öffnete ich die Augen und blickte in die Braunen meines Gegenübers. Wie war er so schnell-?

„Ich... " Gestresst stieß er die Luft aus und fuhr sich durch die dichten Locken. „Ach verdammt, es tut mir leid" Mit schmerzverzogenem Gesicht kam er auf mich zu. „Es tut mir so leid, Kian." Seine Stimme nur ein brüchiger Luftzug.

Doch ich wusste nicht wie ich reagieren sollte.

„Ich weiß wie das Alles auf dich wirken mag, aber du musst mir glauben, dass dem nicht so ist. Ich wollte nichts und niemanden ersetzen. Schon gar nicht dich." Zögerlich überbrückte er die restliche Distanz zwischen uns. „Wir waren beste Freund, wie Brüder. Haben schwere Zeiten durchgestanden." Sanft legte er mir die Hände auf die Schultern. So, als hätte er nicht das Recht mich zu berühren. „Du bist mein Bruder." Seine Augen suchten meine. „Und du wirst es immer sein."

Schweigend sah ich ihn an, wusste nicht wohin mit meinen Gefühlen. Das Stechen in meiner Brust wurde stärker. Gleichzeitig auch das warme Gefühl in meinem Bauch, weil er an unserer Freundschaft festhielt.

„Wieso dann das Alles?", fragte ich nur.

Leidend neigte er den Kopf etwas zur Seite. „Du hast deine Eltern verloren, Kian. Du kannst es gut nachempfinden. Das ist nicht einfach." Er seufzte. „Nach ihrem Tod brauchte ich Abstand. Von allem. Das ist keine Entschuldigung, ich weiß, aber ich konnte nicht nach New York zurück. Aus mehreren Gründen." Seine Hände rutschten von meinen Schultern. „Aber ich habe auch jemanden gebraucht, der für mich da ist. Der mich ablenkt. Auf andere Gedanken bringt und mir hilft ein neues Leben anzufangen."

„Ich hätte dir sofort geholfen", warf ich bitter ein.

Er verzog wieder das Gesicht. „Ich weiß."

„Ich hätte New York sofort verlassen für dich."

„Ich weiß."

„Dann wieso zum Henker hast du dich nie bei mir gemeldet?!", wollte ich nun endlich wissen und wäre am liebsten zurückgewichen, doch mein Motorrad im Rücken versperrte mir den Weg.

Schuldig senkte er den Kopf. „Keine Ahnung."

„Dein Ernst?"

Er reagierte nicht und fassungslos wandte ich den Blick ab. Sah in den Sternenhimmel. Dann zu seiner Yamaha. Das Blau leuchtete wie eh und je. Ein paar Veränderungen hatte sie durchgemacht. Da waren neue Teile und einige Kratzer an der Verkleidung. Wie viel Ähnlichkeit sie doch mit ihrem Besitzer hatte. Ich lachte.

Fragend hob er den Kopf.

Ich konnte das Grinsen nicht unterdrücken. „Dylan meinte immer, dass das Fahrzeug viel über seinen Besitzer aussagt. Und naja, deins ist ganz schön zerkratzt." Nun musste auch er schmunzeln, ehe sein Blick ernster wurde und man Schuld darin sah. „Aber ich sehe auch Verbesserungen. Einige Teile wurden durch Neue ersetzt", ergänzte ich und gab mir schließlich einen Ruck. „Und vielleicht bei dir ja auch."

„Du bist nicht böse?"

„Oh doch", erklärte ich schnell. „Aber wie du schon sagtest, wir sind Brüder und ich kann mir in etwa vorstellen, was du nach dem Verlust durchmachen musstest." Unsicher legte nun ich meine Hände auf seine Schultern. „Ich kann dir noch nicht verzeihen, nicht jetzt. Aber wir können zusammen nach einer Lösung suchen und uns auf jetzt fokussieren, nicht auf das was war."

„Seit wann bist du so schlau geworden?"

Empört schlug ich nach ihm, doch er duckte sich weg. „Nicht so frech."

Mit einem deutlich besserem Gefühl in der Magengegend sah ich ihn weiter an. Äußerlich hatte er sich kaum verändert. Und vielleicht war von dem alten Miles ja doch noch nicht alles weg. Neugierig folgte ich seinem Blick und sah hinunter auf das nächtliche San Diego.

„Schon klar, dass man unser Treffen besser nicht bemerken sollte, aber warum haben wir uns hier oben am Arsch der Welt getroffen?"

Tief durchatmend vergrub er die Hände in seiner Jackentasche. „Dieser Ort hat Erinnerungswert."

„Inwiefern?"

„Jedes Mal, wenn ich hier bin, gibt's eine große Veränderung in meinem Leben und ich hatte gehofft, dass sich das im positiven auf unser Gespräch auswirkt." Er lachte. „Und ich mag die Aussicht."

Verstehend nickte ich. „Aha."

„Nun frag schon", meinte er plötzlich und als er meinen verwirrten Blick bemerkte, ergänzte er, „Dir brennen Fragen auf der Zunge, ich sehe es. Also?"

Meine Mundwinkel zuckten nach oben und entspannt stellte ich mich neben ihn, um ins Tal sehen zu können. „Wie ist das Alles passiert? Du hast zwar schon viel erzählt, aber was ist davon jetzt die Wahrheit und was war nur erfunden? Wie bist du zu deiner neuen Gang gekommen?"

„Alles, was ich dir erzählt habe, stimmt. Nur sind Jackson und die anderen keine einfachen Freunde, sondern eben Gangmitglieder. Wir haben uns durch die Straßenrennen kennengelernt und du kennst mich ja. Durch ein paar Zufälle und etwas Hartnäckigkeit bin ich schnell Mitglied geworden. Deshalb hat mein Onkel mich auch rausgeschmissen."

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Das klang irgendwie viel zu einfach. „Und wie geht's dir jetzt?"

„Wir haben... Es gab in den letzten Monaten ein paar Probleme. Wir haben ordentlich eingesteckt und versuchen jetzt damit klarzukommen, nur gibt es wie immer Meinungsverschiedenheiten. Jackson, unser Alpha, hat-"

„Alpha?", lachte ich. „Jagt ihr nachts irgendwie durch die Wälder? Heult ihr auch den Mond an? Gibt's da was, was ich wissen sollte?"

Genervt verdrehte er die Augen und gab mir einen Klapps gegen die Schulter. „Sei still, sie haben es eben so genannt. Jedenfalls ist er sauer auf dich, genaugenommen auf euch, weil-"

Erneut unterbrach ich ihn. „Moment, wieso?"

„Wegen des Rennens. Er fühlt sich um sein Geld betrogen und als er die Verletzungen gesehen hat, die ich von Dylan habe, hat er rot gesehen. Er fühlt sich bedroht. Unsere Situation ist momentan nicht die Beste und eine neue Gang hier in der Stadt ist das Letzte, was wir brauchen können."

„Aber wir bleiben doch gar nicht für immer."

Miles nickte. „Das weiß er aber nicht."

„Und was meinst du mit einer neuen Gang? Gab es außer euch denn noch eine?"

„Die Serpens."

Unruhig biss ich mir auf die Lippe. „Was ist mit denen passiert?"

„Sind ausgelöscht."

Meine Augen weiteten sich. Ausgelöscht. Eine ganze Gruppe einfach so? Wie war das möglich? Ich wollte gerade nachfragen, da vernahm ich ein weiteres Motorengeräusch. Ein Motorrad, unverkennbar. Mein Blick ging zu Miles, doch sein nervöser Ausdruck gab mir schnell Antwort. Er wusste von nichts. Und ich auch nicht.

RIDERS ~ Lost MemoriesWhere stories live. Discover now