| 24 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬

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Mit meinem schlechten Gewissen, welches ich hinter mir herschleppte, betrat ich unsere neue Wohnung. Mein Handy hatte keinen Akku mehr und dementsprechend wusste ich auch nicht, ob ich vermisst wurde. Die Party war gestern voll im Gange, es war also unwahrscheinlich, dass mein Verschwinden aufgefallen war. Und Jackson sollte friedlich in seinem Bett schlummern.

Also kein Grund zur Sorge.

Auf leisen Sohlen öffnete ich die Tür einen Spalt und blickte sofort ins Wohnzimmer. Ich erwartete bereits das reinste Chaos, Leute, die nicht gegangen waren und jede Menge Alkohol, doch es war penibel... sauber?! Verwirrt zog ich die Stirn in Falten und wollte komplett eintreten, da fiel mein Blick auf Ryan, der mit verschränkten Armen und hochgezogenen Augenbrauen auf dem Sofa saß und mich vorwurfsvoll musterte.

„Sieh mal einer an, wer da nach Hause kommt."

Beschwichtigend hob ich die Hände. „Sorry, ich wollte Bescheid sagen, aber mein Handy-"

„Wo warst du?", unterbrach er mich mit einer Härte in der Stimme, die ich nicht von ihm kannte. Ryan war normalerweise entspannt und überhaupt nicht nachtragend. Doch jetzt zeigte er eine Seite, die mir so noch nicht bekannt war, seine grünen Augen dabei gefährlich funkelnd. Erinnerten mich daran, dass er auch anders konnte.

Ich spürte mein Herz kräftig in der Brust schlagen und suchte krampfhaft nach einem Alibi. „Ich war bei Jackson, er-"

„Wusste gar nicht, dass du über Nacht geblieben bist." Überrascht riss ich meine Augen auf als Jackson aus einem der Nebenräume kam. Seine schwarzen Haare waren nass und sein Blick wirkte gehetzt. Hatte er geduscht? Hier? Verwirrt musterte ich den Alpha, der langsam zum Sofa lief, sich hinter Ryan stellte und damit ein Bild erzeugte, bei dem sie erstaunlich viel Ähnlichkeit mit meinen Eltern hatten. „Was ist deine nächste Ausrede?"

„Leute...", seufzte ich müde und strich meine Locken aus der Stirn. Ich hatte dafür keinen Nerv.

Schlagartig wechselte Jacksons Stimmung und sauer kam er auf mich zu, stellte sich dabei dicht vor mich. So wurde mir nicht nur unser Größenunterschied bewusst, sondern auch die Tatsache, dass er fünf Jahre älter war. Er strahlte Autorität aus.

„Weißt du eigentlich, welche Sorgen wir uns gemacht haben?!"

Unmerklich zuckte ich zusammen. „Aber-"

„Du kennst unsere momentane Situation! Da kannst du nicht einfach über Nacht verschwinden. Dir hätte sonst was passieren können! Was wäre, wenn-"

Diesmal unterbrach ich ihn. „Es ist aber nichts passiert." Besänftigend zuckten meine Mundwinkel nach oben, während ich ihm selbstbewusst in die Augen sah, die mich zur Unterwerfung treiben wollten. „Ich bin erwachsen und muss mich nicht jedes Mal abmelden, sobald ich weg bin."

„Schon klar, aber du musst auch uns verstehen", knurrte er und seine gepresste Stimme zeigte deutlich seinen Unmut. „Du warst die ganze Nacht weg, hast auf keinen Anruf reagiert, was sollten wir da sonst denken?!"

„Habt ihr euren Machtkampf dann mal?!"

Sauer drehten wir uns zu Ryan um. Der Braunhaarige hatte eine Chipstüte auf seinem Schoss, machte sich über die Krümmel auf dem Sofa keine Gedanken und mampfte glücklich vor sich hin, während er uns amüsiert beobachtete. Von seiner vorherigen Stimmung war nichts mehr zu sehen. Als hätte er seine wahren Emotionen wieder im Griff.

„Das ist kein Kampf, die Rangfolge ist schon lange geklärt", erklärte Jacks.

Lachend warf Ryan den Kopf in den Nacken. „Ach? Sag bloß."

„Können wir mal bitte beim Thema bleiben?", warf unser Anführer genervt ein und durchbohrte mich wieder mit seinem Blick. „Ich frage nochmal, Miles, wo warst du? Und denk dir keine neue Ausrede aus."

Verzweifelt hielt ich den Blickkontakt aufrecht. „Ich..."

„Ohh!", stieß Ryan plötzlich aus und kam auf uns zu. Interessiert packte er mich an den Schultern und scannte mich ab. „Wie heißt sie? Ist sie hübsch?" Prüfend sah er mir in die Augen und lachte dann wieder. „Sie muss gut sein, wenn du erst so spät wiederkommst." Grinsend drehte er sich zu Jackson um. „Du kannst es dem Kleinen nicht übel nehmen, wir haben gestern gefeiert, vielleicht-"

„Das gibt ihm trotzdem nicht das Recht so unvorsichtig zu sein", wurde er von dem Schwarzhaarigen unterbrochen, der Ryan nicht eines Blickes würdigte, sondern mir konstant in die Augen sah. Als könnte er jedes Geheimnis entlüften.

Mit weichen Knien gab ich schließlich auf. „Es tut mir leid, okay? Wird nicht wieder vorkommen."

„Das hoff ich auch."

Erleichtert, weil Jackson sich endlich abwandte und die hitzige Atmosphäre sich abkühlte, atmete ich einmal tief durch. Das hätte auch mächtig schiefgehen können. Jetzt hatte ich nicht nur einen besten Freund und zwei Gangs, die ich voreinander geheim hielt, sondern auch noch einen unbekannten One-Night-Stand.

Sehr viel besser konnte ich nicht mehr werden.

Dann öffnete sich plötzlich die Haustier und ein telefonierender Matt kam er herein. Als er uns sah, legte er abrupt auf. „Ein Glück, ihr habt ihn gefunden!" Ich verhinderte gerade noch ein Augenverdrehen. Mit großen Schritten näherte er sich mir und setzte sofort seinen mütterlichen Blick auf. Wie Ryan vorhin, nahm er mich bei den Schultern. „Gehts dir gut?"

„Er ist unverletzt", brummte Jackson.

Matt fiel sichtlich ein Stein vom Herzen und kurzerhand umarmte er mich. Unbeholfen erwiderte ich. Doch dann drückte er sich von mir weg und schüttelte mich kräftig durch. „Was glaubst du eigentlich-"

„Hatten die Predigt gerade schon", unterbrach Ryan ihn lachend.

Mein Gegenüber zog kurz die Augenbraue zusammen, sah mich dann aber sanft und tadelnd zugleich an. „Dann merk es dir für die Zukunft! Wir haben dich stundenlang gesucht, ich hab gefühlt tausend Leute angerufen und Jackson wäre vor Sorge fast ohnmächtig geworden, der ist förmlich-"

„Ist gut jetzt!" Sauer und leicht verlegen zischte er Matt an und als mein Blick verwundert zu dem Alpha glitt, wandte er sich komplett ab. Ging in die Küche und holte sich ein Glas Wasser.

Er hatte sich tatsächlich Sorgen gemacht. Um mich. Das schlechte Gewissen, welches mich plagte, wurde größer. Ich belog ihn, spielte ihm vor, dass er mir vertrauen konnte, und war letztlich nicht in der Lage, die Wahrheit zu sagen. Ich war dem Posten nicht gerecht. Wie bereits befürchtet. Mein Brustkorb wurde enger, das Atmen wurde schwer und ein altbekanntes Gefühl machte sich in mir breit.

Nicht jetzt, dachte ich mir um Fassung ringend.

Leidend schloss ich die Augen und atmete flach ein. Meine Anfälle, die durch die verschiedensten Sachen seit dem Unfall ausgelöst wurden, waren scheinbar doch nicht vorbei. Sie konnten mich jederzeit wieder quälen, kamen unerwartet und zeigten mir, dass ich psychisch nicht ganz auf der Höhe war. Trotz unserer aktuellen scheinbar sicheren Lage.

Es war einfach alles zu viel. Die Lügen. Das Doppelleben, welches ich nie beabsichtigt hatte.

„Miles?", hörte ich eine Stimme.

Doch ich reagiert nicht, ließ die Augen geschlossen und konzentrierte mich auf meine Atmung. Versuchte die sich nähernde Panikattacke zu verhindern. Doch dann kam wie aus dem Nichts eine Flut an Erinnerungen zurück. Ein silberner Mercedes. Quietschende Reifen und ein schmerzlicher Schrei. Ich bekam keine Luft. Und das bildete ich mir nicht nur ein. Ich konnte nicht atmen! Der Sauerstoff erreichte meine Lungen nicht mehr.

RIDERS ~ Lost MemoriesWhere stories live. Discover now