| 29 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬

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Ich war in meinem Leben schon etliche Rennen gefahren. Und jedes einzelne Mal schlug mein Herz vor Freude und Nervenkitzel bis zum Anschlag, als fuhr es selbst mit. Das war eben ein Teil meines Lebens, würde es auch immer sein, aber gerade eben wünschte ich mir, ich wäre nicht hier.

Nicht hier an dieser Startlinie. Nicht hier neben Kian.

Der hohe Wetteinsatz setzte mich enorm unter Druck und Übelkeit zog sich durch mein Inneres, wie eine Schlange im nassen Gras. Mein Körper stand unter Strom, die lauten Stimmen der ganzen Schaulustigen blendete ich aus und gestresst atmete ich tief ein und aus. Wie gesagt, es war nicht mein erstes Rennen, ich hatte keinen Grund zur Aufregung. Nur konnte ich den Moment nicht genießen, nicht so.

„Bereit?" Nein. „Dann los!", schrie der schmierige Veranstalter und warf die Arme in die Luft.

Ich fühlte mich gar nicht richtig anwesend und auch nicht Teil des Rennens, dementsprechend verpasste ich das Startzeichen auch. Fluchend ließ ich die Kupplung etwas zu schnell raus und fuhr mehr als holprig los. Im Rückspiegel sah ich die jubelnden und zugleich irritiert wirkenden Menschen, die uns nachsahen und beschämt senkte ich den Kopf. Was dachte sich Jackson denn jetzt?

Kians BMW war schnell und durch mein spätes Losfahren trennten uns bereits jetzt einige Meter. Entscheidende Meter.

Doch anders als sonst hatte ich kaum Verlangen nach dem Sieg. Ich sehnte nur noch das Ende herbei. Viel lieber wollte ich mich in meinem Bett verkriechen, meine Probleme auf Lebzeiten ignorieren und Jackson nie wieder sehen, damit ich ihm nicht erklären musste, wieso er nach dem Rennen kein Geld sah und wieso ich das Rennen so vermasselt hatte.

Das war doch alles scheiße!

Frustriert biss ich mir auf die Unterlippe und schaltete die Gänge systematisch nacheinander hoch. Es war nicht meine Art einfach aufzugeben und mich zu verkriechen. Das Rennen war meine Idee, also musste ich es auch zu Ende bringen!

Als ich den Entschluss fasste durchzog ein Blitz des Ehrgeizes meinen Körper, packte mich und versetzte mich zurück in alte Zeiten. Zeiten, in denen ich Jacksons Ducati geschlagen hatte und in New York die Straßen unsicher gemacht hatte. Für kaum eine Sache auf der Welt hatte ich eine solche Leidenschaft wie fürs Motorradfahren und ich war auch nicht bereit mich vor der Hydra und mir selbst so zu blamieren. Zudem reizte mich der Gedanke mich wieder mit meinem besten Freund zu messen.

Ich hatte kaum bemerkt, dass ich bis zum Anschlag schon am Gas drehte und Kian mittlerweile wieder näherkam. Freudig sah ich nach vorn, überholte ein Auto als wir endlich in die Innenstadt kamen und war nun gleich auf mit ihm.

Risko war nicht so sein Ding, ich könnte ihn hier einfach abhängen. Der starke Verkehr würde ihn sicher einschüchtern.

Und ich behielt Recht. Einige Überholvorgänge und eine Kreuzung später hatte ich die Nase vorn. Kian würde mir bei gefährlichen Spurwechseln nicht folgen. Das hatte er noch nie, auch jetzt nicht. Wenn nichts schief ging stand mein Sieg schon fest. Ich würde niemanden enttäuschen, würde meinen Ruf behalten und hätte mich bewiesen. Und dann? Was war mit der Kohle? Wusste Kian überhaupt wo der Plaza war? Und war das hier für ihn überhaupt ein Rennen oder nur eine billige Ausrede für etwas, was ich ihn noch erklären wollte?

Nachdenklich richtete ich meinen Oberkörper, der sich für geringeren Luftwiderstand auf den Tank gepresst hatte, wieder auf. Meine Freundschaft zu Kian war wichtiger als das Rennen und ich sollte das alles klären, bevor es Ärger gab.

Augenblicklich verringerte ich meine Geschwindigkeit, schaltete in den fünften Gang und fuhr in eine Nebenstraße.

Kian folgte mir und schlussendlich hielt ich an einer alten Tankstelle an. Hier gab es auch eine Waschanlage und das Gelände war für die Stadt ungewöhnlich weitläufig mit vielen Parkplätzen. Vereinzelte Neonlichter erhellten den Asphalt in der Dunkelheit und direkt neben einer der Zapfsäulen hielt ich an. Außer uns war niemand hier und das ehemalige Gebiet der Serpens wirkte, genauso wie die damalige Gang, tot.

„Dann war das tatsächlich nur eine Ausrede."

Unsicher drehte ich mich zu Kian um, der neben mir hielt. Die Motoren liefen noch, weswegen seine Worte beinahe untergingen, doch ich vernahm ihn trotzdem. Beinahe zeitgleich schalteten wir die Motoren aus, legten die Helme ab und suchten anschließend den Blick des anderen.

„Also?"

„Was also?"

Verächtlich schnaubte er. „Deine Erklärung?

Müde wandte ich den Blick ab und legte meine kalten Hände auf den Tankdeckel. „Es ist-"

„Kompliziert?", unterbrach er mich und ich spürte seinen verletzten und ungläubigen Blick auf mir. „Weißt du, Miles, wir haben so viel durchgemacht. Wir wussten mal alles voneinander, aber jetzt... Ich hab das Gefühl, ich kenn dich nicht mehr. Als wärst du ein anderer Mensch." Ich hörte das Klacken des Ständers als er sein Motorrad abstellte und zu mir kam. „Die Frage ist nur, ob es an mir oder dir liegt."

Ich senkte den Blick als er direkt vor mir stand und seine Hände auf den Lenker meiner Yamaha legte. „Es hat sich viel verändert", flüsterte ich.

„Offensichtlich." Unerwartet sanft fügte er hinzu, „Aber irgendwas ist da doch noch und so kompliziert kann es nicht sein, dass du es mir nicht sagen kannst."

Gereizt stand ich auf. „Du hast doch keine Ahnung!"

„Dann sag es mir doch einfach!" Seine grauen Augen bohrten sich in meine und fordernd zog er die Augenbrauen zusammen. Wäre ich ihm nicht ausgewichen, hätte er mich bei den Schultern genommen oder umarmt oder keine Ahnung was, aber ich brauchte Abstand. „Irgendetwas stresst dich, verfolgt dich und verhindert, dass wir wieder so wie früher miteinander umgehen können und egal was es ist, ich kann-"

„Was kannst du schon?!", schnitt ich ihm das Wort ab. „Was kannst du schon machen, hm? Du kannst mir nicht helfen, außer du lässt mich mit deinen Fragen in Ruhe und hörst auf meine Welt auf den Kopf zu stellen und gehst wieder zurück nach New York!"

Verletzt entglitten ihm seine Gesichtszüge und sofort bereute ich meine Worte.

„Kian-"

„Nein!" Kopfschüttelnd blinzelte er heftig und drehte sich von mir weg. „Halt die Klappe." Langes Schweigen erfüllte daraufhin den leeren Tankstellenplatz. Nur entfernte Motorengeräusche durchschnitten die Luft, wurden von uns aber ignoriert. „Ich wusste nicht, dass du mich scheinbar hasst. Keine Ahnung, was ich falsch gemacht hab, aber-"

„Du hast Nichts falsch gemacht!", ging ich dazwischen und legte meine Hand versöhnlich auf seine Schulter. „Aber..." Mir blieben die Worte im Hals stecken.

Seltsam kraftlos hob er den Kopf und sah mich wieder an. „Aber was?

„Deine Anwesenheit macht alles viel schwieriger als es ohnehin schon ist, ich kann nicht riskieren, dass-"

„Riskieren?!", keifte er leise und Wut flammte in seinem Blick auf. „Wenn du dir wieder eine neue Ausrede überlegst, dann vergiss es. Was riskierst du denn schon?! Das klingt ja beinahe so als hättest du eine neue Gang und wärst wieder in irgendwas Illegales hineingeraten, aber das wäre ja..." Sein Blick veränderte sich und fassungslos wich er vor mir zurück. „Nein..."

Beschwichtigend hob ich die Hände. Doch er hatte die Antwort bereits in meinen Augen gesehen. „Es ist nicht so wie du denkst-"

„Du hast uns einfach eingetauscht?! Nach so kurzer Zeit?! Haben wir dir irgendwas bedeutet?" Sauer lief er auf und ab. „Und was ist mit mir? Warst du mit mir nur wegen der Armenia befreundet? War das außerhalb sonst nichts?"

Verzweifelt wollte ich meine Stimme erneut erheben und meine Haut retten, da kamen die Motorengeräusche verdächtig näher und kurze Zeit später hielten neben uns drei Motorräder, die ich nur allzu gut kannte und beinahe hätte ich auf den Asphalt gekotzt.

RIDERS ~ Lost MemoriesWhere stories live. Discover now