| 6 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬

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Fluchend suchte ich im Geschirrspüler nach dem passenden Topf, wobei ich die Klappe nicht ganz geöffnet hatte und somit kaum etwas sah. Als ich ihn dann hatte, versuchte ich ihn herauszuziehen. Da mir dies aber nicht wirklich gelang, musste ich nun doch genervt die Klappe öffnen.

„Miles, hast du den Mietvertrag irgendwo gesehen?", wollte Ryan wissen, der schon seit einigen Minuten alle Schränke im Wohnzimmer durchwühlte.

„Nein", antwortete ich, während ich den Kühlschrank öffnete und alles fürs Mittagessen zusammensuchte.

Resigniert kam mein Mitbewohner in die Küche und setzte sich auf einen der Stühle. „Ich such nach dem Essen weiter", grummelte er. „Sonst wird das mit dem Auszug nichts."

Ja, Ryan und ich wollten ausziehen. Den Entschluss hatten wir wenige Tage nach dem großen Drama getroffen. Also vor etwas mehr als einen Monat. Weshalb wusste ich nicht genau. Einerseits war die Wohnung für uns beide zu klein, trennen wollten wir uns nicht. Auch der Fahrstuhl war nicht mein Ding. Der Hauptgrund war aber vermutlich, dass wir beide einen Tapetenwechsel brauchten und uns durch den Umzug eine bessere Wohnatmosphäre erhofften.

Aber wir sollten nicht nur zu zweit bleiben. Matt hatte wegen der Miete schon öfter Probleme mit seinen Mitbewohnern und war ohnehin oft bei uns. Eine Wohnung hatten wir auch schon.

In wenigen Tagen würden wir also zusammenziehen. Die Kartons waren schon größtenteils gepackt.

Wir alle hatten darauf gehofft, dass sich die Lage in San Diego beruhigen würde, wenn etwas Gras über die Sache gewachsen wäre, doch dem war nicht so. Es wurden zu viele Leute vermisst, die in dieser Nacht gestorben waren, im Plaza wurden einige Hinweise auf das Drogengeschäft gefunden und auch fuhren immer mehr Streifenwagen durch die Straßen. Eine angespannte Situation für uns alle.

Dennoch rauften wir uns so gut es ging zusammen. Wir waren auch nur noch zu fünft. Alle anderen waren tot, wollten nichts mehr damit zu tun haben oder waren einfach verschwunden.

Unsere finanzielle Lage hielt sich nach wie vor in Grenzen. Bis auf einige Waffen, zwei Motorräder und die Halle hatten wir alles restliche verkauft und als Reserve angelegt. Für alles andere kamen Jackson Eltern auf, was diesen nicht sonderlich freute.

Das einzig Positive in der Zeit, war unser Zusammenhalt, der unglaublich stark war. Durch meinen nun endgültigen Schulabbruch hatte ich auch jede Menge Zeit für den Umzug.

„Matt wird den Wagen wahrscheinlich mitbringen, dann können wir alles rüberfahren", berichtete Ryan, der auf seinem Handy herumtippte.

Ich nickte nur.

Was Alec anging, der lag im Krankenhaus und hatte es sich wohl endgültig mit seinen Eltern verscherzt. Seine Schusswunde heilte zwar gut, brauchte aber jede Menge Zeit und auch psychisch war er auf keinem guten Stand. Der Tod seines Bruders hatte ihn mehr als traumatisiert und er sprach kaum noch. Von dem alten Alec war fast nichts übrig. Wie es bei ihm mit der Schule weitergehen würde, wusste ich jedoch nicht. Von einem generellen Abbruch hatte er nicht gesprochen, aber wiederholen müsste er bei den ganzen Fehlstunden definitiv.

Und zu Ruby oder meinem Onkel hatte ich keinen Kontakt mehr. Wen wunderte es auch?

„Was machst du da eigentlich?", fragte der Braunhaarige am Tisch und ließ sein Handy klappernd fallen.

Ich hielt die Kartoffelverpackung in der einen Hand hoch und das Fleisch in der anderen. „Hatte heute mal Lust auf etwas anderes als Nudeln. Hab ich zwar noch nie gemacht, aber es wird schon klappen."

„Und wenn's schief geht? Bekomm ich dann heute nichts?", schimpfte Ryan demotiviert los.

Demonstrativ wandte ich ihm dem Rücken zu und fing an zu kochen. „Ich bin nicht deine Hausfrau. Wie hast du denn bisher überlebt?" Ich wusste schon lange, dass solche Diskussionen mit Ryan nichts brachten und dennoch verhedderten wir uns immer mal wieder in solchen Gesprächen.

„Es gibt Lieferdienste", brummte er nur.

Mir entwich ein Seufzen. „Das können wir uns auf Dauer vorerst nicht leisten, noch reicht unser Geldvorrat, aber wenn Jacksons Eltern den Geldhahn abdrehen wird's knapp."

„Weiß ich doch."

Ryan ignorierend beendete ich mein Werk, während mein Mitbewohner in der Zwischenzeit mit unserem zukünftigen Nachmieter telefonierte. Das Essen verlief ansonsten schweigend, nebenbei lief der Fernseher. Es gab nicht viele angenehme Gesprächsthemen und ich freute mich innerlich schon darauf, wenn Matt endlich mit bei uns in der neuen Wohnung wohnen würde. Vielleicht wäre es da weniger ruhig.

„Hast du eigentlich mal was von deinen Eltern oder Ruby gehört?", begann ich beim Einräumen des Geschirrspülers nun doch ein Gespräch.

„Nein. Ruby meldet sich nicht und meine Eltern sowieso nicht. Und dein Onkel doch sicher auch nicht, hm?"

Ich schüttelte mit dem Kopf. „Nein, aber ich hab überlegt mal zu ihm rauszufahren."

Ryan ließ beinahe den Teller fallen. „Bist du irre?!" Entgeistert sah er mich an. „Der ist ein Cop! Das Erste, was er machen wird, ist es dich auszufragen und am Ende sorgt er dafür, dass du mächtige Probleme bekommst. Er hat dich rausgeworfen, schon vergessen?"

„Nein, aber er weiß doch gar nicht, dass ich noch lebe. Was wenn er denkt, dass ich zu den Leuten gehöre, die damals im Plaza gestorben sind? Er kennt den Unterschied zwischen den Serpens und der Hydra nicht."

„Miles", Ryan sah mich leicht genervt an, „Der ist Polizist. Der wird schon wissen, dass du noch lebst."

Zweifelnd räumte ich den letzten Teller ein. „Vielleicht hast du recht." Mein Onkel hatte Kontakte und war nicht dumm. Zudem kannte er Jackson und hätte sich bei ihm über mich erkundigen können. Hatte er aber nicht. Er hatte mich abgeschrieben.

Diese Tatsache schmerzte mehr, als ich es mir eingestehen wollte.

„Du vermisst ihn", stellte Ryan unnötigerweise fest.

Ich antwortete nicht. Ryan sah das als Zustimmung und sah mich mitleidig an. Doch sagen konnte auch er nichts. Er verstand mich wahrscheinlich am besten. Auch er wurde aus seiner Familie ausgeschlossen und wusste, dass es dafür keine Entschuldigung gab. Wir waren selbst schuld. Wir hatten uns entschieden. Zudem hatte mir Jackson auch den Kontakt zu meinem Onkel verboten.

„Ich fahr trotzdem nochmal raus", bestimmte ich schließlich spät Abends.

Ryan, der gerade im Bad nebenan Zähne putzte, stieß gestresst die Luft aus. „Nicht das schon wieder."

„Doch, ich will ihn sehen. Ich bin auch vorsichtig. Nur durchs Fenster oder so", erklärte ich und begann dann schon mich fertig zu machen. Jackson würde das schon nicht mitgekommen und außerdem wollte ich meinen Onkel ja nur mal sehen. Und nicht mit ihm übers Drogengeschäft quatschen.

Mein Mitbewohner streckte den Kopf aus dem Badezimmer heraus. „Wenn's sein muss, aber heul mir dann bitte nicht die Ohren voll, wenn du merkst, dass er ohne dich ganz gut klarkommt."

„Hm, bis später", verabschiedete ich mich und hastete die Treppe hinunter. Sehnsucht nach ihm hatte ich schon eine kleine Weile. Nur traute ich mich nie. Um das Revier musste ich mir keine Sorgen machen. Die Serpens waren weg. Grenzen und Nachtsperren gab es somit nicht mehr. Eine gewissen Nervosität erfüllte mich dennoch. Ich hatte schließlich keine Ahnung, wie er reagieren würde, wenn er mich erwischen sollte.

RIDERS ~ Lost MemoriesWhere stories live. Discover now