| 5 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬

77 15 13
                                    

„Was willst du hier?", fragte mein Gegenüber und ich riss meinen Blick von seinem Oberkörper los, um ihn in die grüngrauen Augen zu sehen.

„Ich wollte nur nachsehen, ob du schon wach bist."

Jackson lachte humorlos auf. „Jetzt schon." Gähnend drehte er sich weg und hielt mir die Tür auf. „Komm rein."

Wortlos, aber mit einem Schmunzeln im Gesicht, betrat ich seine Wohnung. Naja, für eine Wohnung war das hier fast schon etwas zu groß. Die gigantische Fensterfront beeindruckte mich jedes Mal, wenn ich hier war. Dennoch sorgte die Wohnung für ein komisches Gefühl in meinem Inneren.

Als ich das letzte Mal hier war, hatte ich Jackson von Neros Verrat erzählt. Und irgendwie hing die Erinnerung noch immer in der Luft.

„Ich weiß, was du denkst, aber das ist nicht länger von Bedeutung", hörte ich Jackson hinter mir sagen, der nur wenige Schritte von mir entfernt war.

Ungläubig schloss ich kurz die Augen, ehe ich mich zu ihm drehte. „Nicht von Bedeutung? Das Ganze ist nicht einmal zwei Tage her." Meine Stimme wurde leiser und ich sah den Anführer sanfter als zuvor an. „Du kannst unmöglich behaupten, dass es dir nicht nahe geht und du das alles schon verarbeitet hast."

„Nein... es ist nur, ach fuck!", stieß er plötzlich aus und seine Schultern sackten erschöpft nach unten und ich konnte ihn gequält ausatmen hören.

Erst jetzt wurde mir das Ausmaß der letzten Nacht und des Verrates richtig bewusst. Jackson sah alles andere als gut aus. Er hatte Augenringe, die mir erst jetzt auffielen und er wirkte irgendwie blass. Ungesund blass. Seine ehemalige Stärke war wie weggeblasen.

Und dabei dachte ich, dass er die schlimmste Phase hinter sich hatte. Bei unserem Gespräch hinter der Halle wirkte es jedenfalls so.

„Jackson?", fing ich vorsichtig an.

Er reagierte nicht, setzte sich nur aufs Sofa und lehnte den Kopf zurück an die Lehne, die Augen waren dabei geschlossen. Unschlüssig sah ich ihn einen Moment lang an. Schließlich gab ich mir einen Ruck, setzte mich zu ihm und drückte mich ganz leicht an seine Seite. Wir berührten uns kaum. Aber dennoch genug, um die Wärme des anderen zu spüren und uns einigermaßen sicher zu fühlen.

Eine Weile saßen wir so da. Niemand sagte etwas. Was sollte man auch sagen?

Doch dann ging alles ganz schnell. Jackson schnellte nach vorn, packte mich von hinten und drückte mich an sich. Eine ungewöhnliche Umarmung.

Zuerst erstarrte ich. Jackson wollte mich aber nicht loslassen. Also entspannte ich mich langsam und ließ ihn einfach machen. Fehlte nur noch, dass er mich auf seinen Schoß zog, dachte ich mir innerlich lachend. Doch schnell wurde ich wieder ernst, als ich ihn zittrig atmen hörte.

Das konnte so nicht weitergehen!

Entschlossen drehte ich mich in seiner Umarmung und drückte ihn leicht von mir. „Jackson..." Für einen Moment sah ich in seine trüben Augen und suchte nach den richtigen Worte, am Ende kam aber nur die klägliche Frage, „Was machen wir jetzt?", heraus.

Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Miles."

„Aber ich", meinte ich plötzlich selbstbewusst. Es war als würde Jacksons Schwäche meine starke Seite heraufbeschwören. „Wir müssen aus der Drogenszene raus und nochmal neu anfangen."

„Und wie stellst du dir das vor?"

Ich legte den Kopf leicht schräg und wandte den Blick für einen Augenblick ab. „So genau weiß ich das auch nicht, aber wir schaffen das schon und auch wenn es mehr als kitschig klingt, aber wir sind füreinander da." Meine braunen Augen trafen wieder auf seine. „Die Polizisten sind uns so nahe wie nie zuvor. Wir sollten die Geschäfte vergessen und fürs erste untertauchen."

Jackson sah mich zweifelnd an und wollte bereits widersprechen, doch ich unterbrach ihn.

„Nicht für immer. Nur, bis sich die Lage beruhigt hat."

Er schüttelte sacht mit dem Kopf und lehnte ihn an meine Schulter. „Wie sollen wir das den anderen erklären? Wie sollen wir unsere Kosten decken? Was ist mit-"

„Mach dir darüber keine Gedanken", schnitt ich ihm das Wort ab. „Matt hat heute Morgen selbst gesagt, dass er der Idee nicht ganz abgeneigt ist. Und welche Kosten haben wir denn noch? Die Halle brauchen wir vorerst nicht und wenn wir die Geschäfte stilllegen, haben wir keine Ausgaben. Wir haben genug vorgesorgt und deine Eltern sind immerhin keine Geringverdiener."

„Ich weiß nicht..."

Ich merkte wie meine Augen anfingen zu brennen und ich blinzelte schnell. „Und wen haben wir denn noch zu überzeugen? Es sind fast alle weg, tot oder wollen mit uns nicht mehr zu tun haben", erklärte ich mit brüchiger Stimme. „Hältst du denn wirklich gar nichts von der Idee?"

„Ach Miles..." Jackson hob den Kopf wieder und sah mich versöhnlich an. „So einfach ist das nicht." Er seufzte. „Aber du hast recht."

Überrascht sah ich ihn an. So schnell hatte ich nicht mit Zustimmung gerechnet. „Du meinst das ernst?"

Er nickte. „Hm." Dennoch hatte sein Blick etwas Müdes. Er schien mir nur zuzustimmen, da er keinen anderen Weg sah. Nicht, weil er überzeugt war, dass es das Richtige war. „Es ist vielleicht wirklich das Beste. Auch, wenn es mir nicht gefällt, meine Eltern um Geld anzubetteln", murrte er.

„Verstehe ich, aber es geht grad nicht anders." Ich umarmte ihn wieder. „Danke, dass du mir zustimmst."

Er lachte leicht. „Jederzeit wieder."

Dann kam mir plötzlich ein wichtiger Gedanke. Nur wollte ich meine Frage nicht laut aussprechen. Ich wollte das Thema einfach stillschweigen, aber meine Neugierige ruinierte mal wieder alles. „Wissen eigentlich schon Neros Eltern, dass..."

„Nein." Jackson verkrampfte sich. „Wie sollte ich ihnen das auch erklären?"

Ich zuckte mit den Schultern. Neros Verschwinden würde wohl ein Leben lang ein Geheimnis bleiben, welches wir mit uns herumtragen würden. Nur was, wenn seine Eltern die Polizei einschalten würden? Dann würden wir nur wieder unnötig ins Visier geraten. „Jacks? Was wenn-"

„Nero kennt sich aus, wenn es darum geht unterzutauchen," antwortete Jackson, der meine Frage wohl schon ahnte. „Niemand wird ihn finden, wenn er das nicht selber will. Aber genau das ist das Problem. Wenn die Polizei nichts findet, wird sie ihn für tot erklären."

„Und das könnte wiederum negativ auf uns zurückfallen", ergänzte ich Jackson und dieser nickte. „Was machen wir also?"

Jackson schloss wieder gequält die Augen. „Ich werde Ihnen erzählen, dass er mit einer Freundin durchgebrannt sei, da er den hohen Erwartungen nicht mehr standhalten konnte und hier sowieso keinen Job gefunden hatte."

„Du willst sie anlügen?"

„Was soll ich sonst tun? Es ist die beste Wahl, Miles, glaub mir. Sie werden sich keine Sorgen machen und ich werde nicht länger dazu gedrängt, die Firma zu übernehmen. Es ist für alle das Beste. Und wir können uns von dem Schlamassel hier erholen", murmelte er noch leise.

Ungläubig zog ich die Augenbrauen zusammen. Es war die einfachste Variante. Für immer würde das wohl aber kaum eine Lösung sein. Aber wir konnten nichts anderes tun als nach vorne sehen und die Geschäfte hinter uns zu lassen. Und mit eben dieser Lüge würde Nero und dessen Verrat ein für alle mal verschwinden.

RIDERS ~ Lost MemoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt