| 44 | 𝐊𝐢𝐚𝐧

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Mit schnell schlagendem Herzen und einem zu hohen Puls ging ich einige Meter um den Platz des großen Holzkreuzes herum, um den Neuankömmling sehen zu können. Miles bleib zurück, näherte sich aber seiner Yamaha. Ein altbekannter Fluchtinstinkt.

Als dann die schwarze Yamasaki von Tyler auftauchte, verfluchte ich innerlich das Leben.

War ja klar, dass ausgerechnet er hier auftauchen musste. Die Frage war nur, wie er uns gefunden hatte. Entweder er war mir gefolgt, als ich mich vorhin vom Pantai Inn weggeschlichen hatte, oder aber er hatte eine Möglichkeit gefunden, mich aufzuspüren. Vielleicht hatte er mir ja einen Peilsender untergejubelt, dacht mein paranoides Ich. Oder er hatte eine Möglichkeit gefunden mein Handy zu orten. Ihm würde ich es zutrauen.

Nervös schielte ich zu Miles. Er konnte unmöglich wegfahren ohne dabei auf Tyler zu treffen. Der Platz hatte nur eine Zufahrt.

Mit verringerter Geschwindigkeit und einer sanften Bremsung kam mein Gangkamerad schließlich zum Stehen. Lässig nahm er den Helm ab, musterte erst mich dann Miles mit einem süffisanten Grinsen. So, als hätte er unsere Anwesenheit hier oben bereits erwartet und hatte so eben seine Bestätigung erhalten. Denn der zufriedene Ausdruck auf seinem Gesicht, als er sich durch die Haare fuhr, sprach Bände.

„Schaut her, der kleine Kian setzt mal wieder falsche Prioritäten", fing er an, legte seinen Helm vor sich auf den Tank und stützte dort seine Arme ab. „Was wird wohl Dylan dazu sagen?"

Sauer kniff ich die Augen zusammen. „Was machst du hier?"

„Wonach sieht es denn aus? Ich traue dir nicht und wollte sichergehen, dass meine Vermutungen gerechtfertigt sind, denn auch, wenn ich dich nicht leiden kann, so gehörst du trotzdem noch zur Armenia und-"

„Wer weiß, vielleicht ja nicht mehr lange", unterbrach ich ihn und konnte mir selbst nicht erklären woher das kam.

Tyler zog ebenfalls überrascht die Augenbrauen in die Höhe. „Das hab ich jetzt zwar nicht erwartet, aber bitte, wenn du nicht mehr zu uns gehören willst, dann geh ruhig. Ich werde dich nicht aufhalten. Dann hab ich ein Problem weniger." Nachdenklich neigte er den Kopf zur Seite. „Vielleicht hat Dylan sogar Mitleid mit dir und bringt dich nicht wegen Untreue um, aber da wäre ich mir mal nicht so sicher. Die Frage ist nur, wieso du plötzlich den Schwanz einziehst?"

„Hör auf ihm Angst zu machen, Kian hat das nicht so gemeint!", mischte sich nun auch Miles ein.

Sofort wurde er eindringlich von Tyler gemustert. Für einen Moment war alles still, bis ich die Erkenntnis in Tylers Augen sah und mir ein kalter Schauer über die Haut kroch. „Verstehe... Kian würde nie seine Gang verlassen, so risikobereit ist er nicht. Wer will schon ganz auf sich allein gestellt sein... Außer", sein Blick wanderte wieder zu mir. „Er fühlt sich bereits sicher, weil er schon eine neue Gang hat."

Das ekelhafte Gefühl in meiner Magengegend konnte ich gar nicht beschreiben.

Aber das Gefühl, dass mir alles entglitt und ich mit jeder Sekunde etwas mehr die Kontrolle über die Situation verlor, wuchs und wuchs. Ich war mit dem Ziel hier hoch gekommen, mit Miles alles zu klären. Damit ich ihn ein Stück weit verstehen konnte und vielleicht irgendwann ja auch verzeihen. Doch jetzt stand ich hier und zweifelte meine eigene Mitgliedschaft an. Schlimmer, ich zog es sogar in Erwähnung die Armenia zu verlassen. Und das wurde mehr als nur bestraft.

„Ich wusste ja, dass du ein verschissener Verräter bist, Miles, aber, dass du jetzt auch Kian mit hineinziehst-"

„Er hat damit nichts zu tun!", ging ich dazwischen. „Es ist die Atmosphäre in der Gang, der Umgangston, ich-"

Verächtlich schnaubte Tyler. „Ich bitte dich, wir sind kein Kindergarten, wo man verhätschelt wird! Du wusstest von Anfang an worauf du dich einlässt und all die Jahre hast du dich nie beklagt. Wenn du dich einsam fühlst, weil dein kleiner Freund weg ist, dann bist du noch viel abhängiger und naiver als ich dachte."

„Unfassbar, was aus dir geworden ist", murmelte Miles mit zerknautschter Miene und beinahe mitleidig sah er Tyler an.

Dieser steig nun von seinem Motorrad ab und baute sich vor meinem besten Freund auf. Alarmiert spannte ich mich an. Bereit für alles. „Du kannst von Glück reden, dass ich heute allein gekommen bin und nicht Dylan oder Neela mitgebracht habe."

„Sie hätten dir doch eh nicht geglaubt", entgegnete Miles.

„Oh doch. Dylan will dich für deinen Verrat tot sehen, weil du wie ein Feigling untergetaucht bist, dich nicht gezuckt hast und uns alle hast sitzen lassen. Als sein Stellvertreter musst du für das Wohl der Gang sorgen, aber du verpisst dich einfach. Lässt uns alle zurück, für was? Für ein glückliches Leben im Exil?!"

Wehleidig trat Miles einen Schritt zurück und ich nahm dies als Zeichen, dass wir verschwinden sollten. „Die Zeiten haben sich geändert, Tyler. Ich gehöre nicht mehr zu euch, sondern-", schnell unterbrach er sich selbst. „Ich bin euch zu nichts mehr verpflichtet... Und Kian, denn er will auch nicht mehr." Damit lag sein Blick nun auf mir und das unwohle Gefühl verstärkte sich enorm.

Unterbewusst wusste ich, dass dies eine Entscheidung war.

Tyler würde Dylan von dem Treffen erzählen. Auch von seiner Vermutung was die andere Gang betraf. Und er würde dafür sorgen, dass man Miles und mich töten ließe. Dylan würde uns jagen. Sein verletzter Stolz konnte nicht geheilt werden. Andere Gang hin oder her, für mich gab es keinen Weg mehr zurück. Die Mitgliedschaft bei der Armenia war seit dieser Nacht für mich ein Teil der Vergangenheit. So schmerzlich es auch war.

Und Tyler hatte seine Antwort schon, bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte.

„Zurück hättest du eh nicht gekonnt, Kian", sagte er mir nur. Dann wurde sein Blick kalt. „Weil du früher mein Freund warst, gebe ich euch einen Vorsprung von einer Stunde. Wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen, dann als Feinde, denn mit Verrätern kann man nicht anders umgehen."

Die Endgültigkeit seiner Worte konnte gar nicht so schnell sacken, wie ich ihm benommen zunickte und dann mit Miles davonfuhr.

Den beleuchteten Platz des Memorials ließen wir hinter uns. Die Motorengeräusche unserer Bikes in den Ohren und die Kälte der Nacht unter den Knochen begleiteten uns die Straße hinab ins Unbekannte. Denn als Flüchtiger musste ich die verbliebene Stunde nutzen, um meine Haut zu retten, koste es was es wolle.

Ein Krieg stand bevor.

Und ich tat das, was ich am besten konnte. Ich suchte das Weite. Die Flucht. Ließ alles hinter mir. Brachte mich in Sicherheit bevor es zu spät war und hielt nicht an. Dabei konnte ich das befreiende Gefühl, welches die abgetrennten Ketten der Armenia hinterlassen hatte, nicht zulassen. Ebenso die Erleichterung, dass Tyler uns vor Wut nicht einfach erschossen hatte und wir noch am Leben waren.

RIDERS ~ Lost MemoriesWhere stories live. Discover now