| 50 | 𝐉𝐚𝐜𝐤𝐬𝐨𝐧

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Der Stoff von Neros Jacke schien mich in einen Strudel aus Erinnerungen zu ziehen. Sein Gesicht hatte ich so klar vor Augen als hätte ich ihn nicht das letzte Mal vor Monaten gesehen sondern erst gestern. Seine Stimme drang zu mir durch. Sie forderte mich zu etwas auf. Doch ich verstand sie nicht. Seine blauen Augen hatten noch immer den kindlichen Glanz. Sie trugen Geheimnisse in sich. Doch ich erkannte sie nicht.

Seit seinem Verrat hatte ich das Gefühl ihn nie wirklich gekannt zu haben. Ihn! Der Mensch, der mir immer am nächsten war!

Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit konnte ich die Tränen nicht aufhalten. Ich gab mich der Trauer hin, ließ Matts Umarmung zu und hoffte tief im Inneren, dass mich niemand anderes so sah. Meine Finger krallten sich in Neros alte Jacke. Als könnte ich ihn so zurückholen.

Ich hatte noch klar vor Augen wie er mich überzeugt hatte mitten in der Nacht in den kalten Pazifik zu springen. Wir hatten den Strand damals ganz allein für uns. Stockbesoffen und nicht mehr klar bei Verstand waren wir eine Gefährdung für das Allgemeinwohl. Doch all das hatte uns nicht interessiert. Der Sprung ins kalte Nass und der anschließende Tauchgang hätten tödlich ausgehen können. Jedoch hinterfragte ich nichts. Ich sprang einfach, mein betrunkenes Ich vertraute ihm voll und ganz und er kam ja schließlich mit.

Schon zu unseren Kindertagen war ich der Vernünftige gewesen. Neros großer Bruder. Denn das waren wir. Brüder. Jeder für sich ein Einzelkind in der Welt der Superreichen, aber mit einem Bruder von einer anderen Mutter. Wir hatten nur uns. Und es hatte gereicht.

Seine Idee war auch die Gang gewesen.

Er hatte die Idee der Hydra gehabt. Der vorbestimmte Weg unserer Eltern hatte ihm nicht gepasst. Schon von klein auf hatte ich mich damit arrangiert, aber für ihn war es keine Option. Er wollte mehr. Also gründeten wir die Hydra. Ein Jugendprojekt, welches zur Lebensaufgabe werden sollte. Wir fanden Freunde. Familie. Waren glücklich. Und das wichtigste, wir waren zusammen. Nach wie vor.

Matt hatte recht. Die Hydra war tot. Ausgelöscht. Neros Verschwinden hatte ihr Schicksal besiegelt. Ihr Todesurteil unterzeichnet.

Mit ihm starb die Idee einer unabhängigen Motorradgang.

Nicht Zayn hatte uns zerstört sondern ich. Ich hatte ihn verbannt. Ihn in die Wüste geschickt. Ich hätte ihm glauben sollen. Vielleicht hätte ich schon eher etwas gemerkt, wenn ich richtig hingesehen hätte. Wenn ich anders gehandelt hätte oder unser Band stark genug gewesen wäre, hätte er mir dann von Zayns Plänen erzählt? Wahrscheinlich nicht.

Im Grunde hatte Matt nur ausgesprochen, was ich eh schon wusste. Ich wusste, dass Alec nie mehr der selbe sein würde und auch, dass Damien nie wirklich zu uns gehören würde. Und auch, dass er und Ryan nicht mehr wollten. Es waren Tatsachen.

„Matt...?"

Seine Arme um mich verstärkten ihren Griff. „Hm?"

„Hast... Kannst du vielleicht versuchen...-"

„Es geht nicht, Jacks", flüsterte er leidend, mitfühlend. Und noch während ich das Gesicht fragend verzog, sprach er weiter. „Ich habe es schon versucht, glaub mir. Du willst nicht wissen wie viele Stunden ich damit verbracht habe ihn zu suchen." Seine Worte waren wie Nadelstiche. Sie holten mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Neros Rückkehr war Wunschdenken. „Ich habe alle meine Freunde und Bekannte angerufen, in sämtlichen Polizeirevieren und Krankenhäusern nachgeforscht und sonst überall. Keine Spur von ihm."

Ich ignorierte den Schmerz. „Wenn es ums Geld geht, dann..." Eine letzte Hoffnung.

Doch Matt schüttelte den Kopf. „Nero ist nicht dumm. Er wird schon gewusst haben, wie er ungesehen verschwindet. Immerhin wusste er nicht wie die Sache mit Zayn ausgeht. Er muss damit gerechnet haben, dass man ihn verfolgt." Müde seufzte er. „Ryan hatte mich auch schon angefleht ihn zu finden."

Deswegen war er also so zornig. Weil die Suche erfolglos war.

„Es gibt also keine Möglichkeit? Nicht eine einzige?"

Matt gab mich schließlich aus seiner Umarmung frei und stellte sich wieder neben mich. Suchte Augenkontakt. „Im Moment nicht. Außer er meldet sich freiwillig. Aber solange er nicht gefunden werden will, werden wir ihn auch nicht finden." Kurz verzieht sich sein Gesicht. Als würde er etwas nicht sagen wollen. „Naja... Und da du ihn ins Exil geschickt hast mit der Drohung, dass er nie mehr wiederkommen soll, weil du ihn vielleicht doch noch erschießt..."

Ja, Nero würde nicht zurückkehren. Nicht zurückkehren können.

Besonders da er hier nichts hatte. Alles was er hatte war die Hydra. Und mich. Doch mit der Verbannung hatte er uns beide verloren.

Frustriert und sauer auf mich selbst wischte ich mir übers Gesicht. Wischte die Tränen fort. Ich musste an die Zukunft denken. Aber welche Zukunft?! Als was? Mit wem und wie?

„Hast du schon mit Damien und Alec gesprochen? Und mit Miles?", fragte ich mit gebrochener Stimme. Solch eine Entscheidung, so fest sie auch schon stand, konnten wir schlecht alleine treffen.

Matt zögerte. „Nein, aber sie werden es verstehen. Insgeheim wussten wir doch alle, dass es nie mehr so wird wie früher."

„Das muss es auch nicht, aber-"

„Jackson", wurde ich unterbrochen. Matts bernsteinfarbene Augen suchten meine. „Es ist vorbei. Wir sollten loslassen."

Ich nickte. „Okay."

„Okay." Matt nickte mir ebenfalls zu. Als müsste er sich selbst bestätigen, dass es so das Beste war. „Ich werde den anderen sagen, dass sie uns heute Abend an der Halle treffen sollen. Dann... dann können wir reden." Er schlug mir auf die Schulter. „Vielleicht kannst du ja Miles suchen gehen, er reagiert auf keine Anrufe." Wieder ein Nicken meinerseits. „Gut, dann... bis heute Abend", verabschiedete sich Matt und entfernte sich langsam.

Ich hatte gesehen wie schwer ihm die Worte gefallen waren. Auch ich hatte Schmerzen bei dem Gespräch. Seelisch. Wie wir so eigenartig verkrampft über das Ende eines Traums gesprochen hatten.

Schwerfällig ging mein Blick Matt hinterher. Er war Mitbegründer damals. Ryan hatte er später mit eingeschleppt. Und so hatte alles angefangen. Natürlich war auch alles beendet als der Urheber der Idee nicht mehr anwesend war.

Aber ich war noch da. Offensichtlich allein.

Die alten Zeiten waren gekappt. Vergangenheit. Und heute Abend wäre es innerhalb unserer kleinen Gruppe offiziell. Matt würde es den anderen sagen und dann gab es kein zurück mehr. Blieb nur die Frage wo Miles war?

RIDERS ~ Lost MemoriesWhere stories live. Discover now