Sturmwarnung (3|1)

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Da mein Büro abgefackelt war, nahm ich mir den Rest des Tages frei und nutzte die Zeit, um das Chaos in meiner Wohnung zu beseitigen. Dabei kreisten meine Gedanken unaufhörlich um Eldastin und den Anschlag auf mein Leben. Je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer wurde ich mir, dass Eldastin tatsächlich nicht gekommen war, um mich zu töten. 

Doch weshalb hatte er dann die lange und beschwerliche Reise nach Freymold auf sich genommen? 

Soweit ich mich erinnerte, hasste er die Menschenwelt. Es musste schon wirklich dringend sein, wenn er dafür diese Bürde auf sich nahm. Ich kam nur einfach nicht darauf, was ihn hierher verschlagen haben könnte oder weshalb es so extrem wichtig war, dass ich nach Albenheim zurückkehrte. Nicht, dass ich vorhatte, jemals wieder einen Fuß in die Stadt zu setzen.

Gleichzeitig fühlte ich mich schuldig. Eldastin hatte mich – von unserer kurzen Rangelei auf dem Korridor vor meinem Büro abgesehen – nicht schlecht behandelt. Er hatte mir sogar das Leben gerettet und mich vor Professor Balinn in Schutz genommen. Und was hatte er jetzt davon? Er saß in einer Zelle und wartete auf seine Vorverhandlung. Und bestimmt würden die Menschen, die seinen Fall verhandelten, nicht gnädig mit ihm sein. 

Dabei war die Sache mit dem Studenten nun wirklich nicht seine Schuld gewesen. Er hatte sogar eine – für reinblütige Alben – ungewöhnliche Zurückhaltung an den Tag gelegt.

Immerhin lebte der Student noch.

Doch Eldastin war nur eines meiner Probleme. 

Das andere lautete enferische Lunte. Wer konnte mich so sehr hassen, dass er mir den Tod wünschte? Vielleicht dieselbe Person, die Spitzohren raus an meine Tür geschrieben hatte? Sicher war es nicht das erste Attentat, das in Gronholt auf Halbalben wie mich verübt worden war, doch die anderen Anschläge lagen schon lange zurück und irgendwie hatte ich angenommen, dass die Menschen sich inzwischen weiterentwickelt hätten. 

Offenbar ein Irrtum.

Handelte es sich bei der enferischen Lunte in meinem Büro tatsächlich um einen Fall von Anderling-Hass oder war ich mit dieser Vermutung komplett auf dem Holzweg? Möglicherweise steckte ja auch irgendein Niederling dahinter. 

Ich hatte keinen blassen Schimmer. Und was noch schlimmer war: Langsam dämmerte mir, dass Eldastins Auftauchen und der Anschlag irgendeinen Zusammenhang haben könnten. 

So interpretierte ich jedenfalls seine Andeutung, ich wäre hier nicht sicher. Wenn das stimmte, dann konnte es jederzeit einen neuen Anschlag auf mein Leben geben.

Dieser Gedanke gab den Ausschlag. 

Ich konnte nicht länger grübeln. Ich musste etwas unternehmen. Und das bedeutete, ich musste mit der einzigen Person in ganz Hertland sprechen, die wusste, was hier los war.

Auf dem Weg zum Gefängnis machte ich kurz bei der Varietät halt und kaufte mir eine Flasche Zuckersirup, einen Kohlestift und eine Boule. 

Dann ging ich zum Melusinenpark, setzte mich zwischen den blühenden Kirschbäumen auf eine Bank, trank meinen Sirup und schrieb Bruin eine Nachricht, damit sie sich keine Sorgen machte, falls sie am Abend käme, um mich zu besuchen und mich nicht vorfände.

Nachdem ich den Text niedergeschrieben hatte, lehnte ich mich zurück und beobachtete, wie die Sonne hinter den Schloten der Gronholter Textilfabrik dem Horizont entgegensank. In ihrem rotgoldenen Schein waren die Umrisse der Oberlande nur noch schemenhaft auszumachen.

Ich ließ meiner Fantasie freien Lauf, kniff die Augen zusammen und stellte mir vor, die zerklüfteten Überreste von Häusern, Brücken und Türmen erkennen zu können, die beim Sturz in die Menschenwelt einen Teil ihrer Körperlichkeit verloren hatten. Oder einen Teil ihrer Realität, wie Professor Balinn es formulierte. Sie waren nur noch zweidimensionale Gebilde, wie die Requisiten einer himmlischen Theateraufführung.

So etwas geschah, wenn zwei Welten, die nicht zusammengehörten, miteinander kollidierten. 

Bis heute war noch nicht geklärt, was der Grund für dieses Unglück war. Möglicherweise so etwas Simples wie Materialermüdung. Vielleicht hatten die alten Götter schlampig gearbeitet. Der Gedanke hätte mich amüsiert, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Wenn damals nicht so viele Alben und Menschen den Tod gefunden hätten.

Ein dumpfes Rumpeln lenkte meine Aufmerksamkeit in nordöstliche Richtung. 

Dort türmten sich dunkle Wolkenberge auf, die von einem drohenden Unwetter kündeten. Nicht ungewöhnlich für den Märing.

Um nicht nass zu werden und weil ich es endlich hinter mich bringen wollte, setzte ich meinen Weg Richtung Gefängnis fort.

Am alten Rathaus, das mit seinen opulenten Stuckverzierung an ein kunstvolles Sahnetörtchen erinnerte, warf ich die Boule mit meiner Nachricht an Bruin in den dafür vorgesehenen Schlund, der sie mithilfe von Dampfkraft zur Rohrpostleiststelle transportieren würde.

Dann marschierte ich weiter, durch die engen Gassen des Hafenviertels, durch das innere Zolltor und über die Teberia-Brücke zum Korund, einer Insel, die wie ein kahler Schädel aus dem Beletz herausragte. Dort lag das Gefängnis von Gronholt.

Ursprünglich hatte die asymmetrische Festungsanlage der Sicherung des Wasserwegs und der Verteidigung gegen die von Süden vorrückenden Truppen der Waldmannen gedient. 

Wie bei einem solche Fort üblich, lag der Zugang auf der Rückseite.

Zusammen mit einigen anderen Besuchern überquerte ich die Klappbrücke und betrat die schlauchförmige Festungskehle. 

Hinter den hohen, meterdicken Kalksteinmauern, die unter dem Einfluss von Luft und Wasser korrodiert waren und spinnennetzförmige Verwitterungen aufwiesen, lagen die alten Kasernen und Pulverkammern der ehemaligen Festung. Inzwischen waren aus den Stuben der Soldaten die Zellen der Anderling-Gefangenen geworden, die besonderen Ansprüchen genügen mussten.

Bevor ich jedoch dort hingelangen konnte, musste ich mich mehrfach mit Namen und Beruf vorstellen und den Grund meines Hierseins angeben. Wechselnde Gefängniswächter lauschten meinem Anliegen. Auf die Frage hin, ob ich mit dem Gefangenen verwandt wäre, gab ich an, seine Verlobte zu sein. Das führte zu jeder Menge hochgezogenen Augenbrauen und gerümpften Nasen, doch schließlich wurde ich zu Eldastin vorgelassen.

Eldastins Gefängniszelle lag hinter vielen Türen und Schlössern. Einige davon waren sogar mit magischen Artefakten gesichert. Ich hatte immer geahnt, dass Professor Balinn manche unserer Fundstücke von der Bruchstätte an die Regierung verhökerte. Jetzt wusste ich auch, wo diese anschließend landeten. Allerdings entdeckte ich nicht nur Oberling-Artefakte, sondern auch die eine oder andere Arbeit, die aus den Unterlanden stammen musste. 

Angeblich gab es in Malachit, direkt am schwarzen Schlund, eine Forschungsgruppe, die sich mit Niederling-Kunst befasste. Jedenfalls war davon auszugehen, dass es Eldastin nicht gelingen würde, sich mithilfe seines Talents aus dem Gefängnis zu befreien.

Das schien ihn jedoch nicht sonderlich zu beunruhigen. 

Als ich vor seine vergitterte Zelle trat, saß er auf einer niedrigen Holzbank an der rückwärtigen Wand und spielte mit einem Buchenblatt, das irgendwie seinen Weg in den Raum gefunden haben musste.

Bevor ich durch die letzte Tür gegangen war, hatten die Wächter mir mitgeteilt, dass ich mir darüber im Klaren sein müsse, dass er mich trotz aller Schutzmaßnahmen jederzeit töten könne, und ich zweifelte nicht daran.

»Eldastin?«

Das Buchenblatt hörte auf, in der Luft herumzutanzen und segelte langsam zu Boden. Gleichzeitig hob Eldastin den Kopf. Sein blasses Gesicht wirkte teilnahmslos, seine Augen distanziert. Er hatte einen blutigen Kratzer an der Wange und trug nicht länger seine Svila, sondern einfache Gefängniskleidung aus hellgrauen Leinen.

»Du bist gekommen«, bemerkte er, ohne große Gefühlsregung. Vermutlich war er nicht mal überrascht.

»Ich brauche Antworten«, erwiderte ich.

Eldastin nickte.


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