Der Preis der guten Tat (9|10)

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Der Effekt war überzeugend. Genau wie vor ein paar Tagen am Bahnhof von Gronholt bildete das Artefakt eine kuppelförmige Schutzsphäre aus. Sie rammte sowohl den Vindr als auch den Flüchtenden und warf beide ins Gras, wo sie liegen blieben und sich nicht mehr rührten.

Das Herz stockte mir in der Brust.

Nein, dachte ich. Oh nein, nein. Ich rannte los und kauerte mich neben den Geflüchteten.

Als ich den Mann auf den Rücken drehte, stellte ich fest, dass es sich um Kyano handelte. Seine Wange war gerötet und blutig abgeschürft. Vermutlich von der Wucht der sich ausdehnenden Schutzsphäre. Er stöhnte, rollte auf die Seite, spuckte einen Schwall Blut und etwas, das ich erst mit Verspätung als Zahn erkannte. Erleichterung durchflutete mich – und wenn ich ehrlich war, auch ein bisschen Schadenfreude.

»Beim unheiligen Essenkehrer ... was war das denn?«, hauchte Kyano.

»Die Macht der Wissenschaft«, erwiderte ich, was mir einen schiefen Blick aus unnatürlich blauen Augen bescherte.

Hinter uns regte sich der Vindr. Seine Flügel zuckten und sein Gefieder raschelte wie trockenes Herbstlaub.

»Komm«, drängte ich und packte Kyano am Arm, um ihm aufzuhelfen. »Lass uns verschwinden.«

»Da ist sie!«, ertönte eine schrille Stimme.

Aus der Dunkelheit abseits der Bruchstätte näherten sich mehrere Menschen. Angeführt wurden sie von einer Lotrechten, was unschwer an ihrer seltsamen Wandertracht zu erkennen war.

»Der Halbling, den die Geflügelten suchen!«, rief sie und deutete in meine Richtung.

»Diese miesen, menschlichen Verräter«, entwich es mir.

»Euer Volk, oder?«, erwiderte Kyano.

»Nicht wirklich«, gab ich zurück.

»Und was ist Euer Volk, Prinzessin?«

»Keine Ahnung, aber Verräter und Mörder gehören nicht dazu.«

»Damit schließt ihr Eure eigene Familie aus.«

»Wenn das so sein sollte ...« Gehetzt sah ich mich nach den Menschen und dem Vindr um. »Aber das ist nicht der richtige Moment, um darüber zu diskutieren.«

»Dann stimmt es also, was man sich erzählt«, bemerkte Kyano spöttisch.

»Was?«, keuchte ich, während ich an seinem Arm zerrte. Der Wasseralb machte jedoch keine Anstalten, sich vom Fleck zu bewegen.

»Dass Ihr kein Talent besitzen würdet.«

»Ich ...«

»Andernfalls könntet Ihr die Vindr einfach vom Himmel holen.«

Ich erinnerte mich daran, was Eldastin in Gronholt getan hatte. Und daran, wie leicht es ihm gefallen war. »Du hast Recht«, gab ich zu. »Ich habe kein Sturmalben-Talent.«

»Und wieso wollt Ihr dann Königin sein?«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich das will.«

Mit einem Ruck löste Kyano sich von mir und betastete seine geschwollene Wange. »Ihr habt bewiesen, dass Ihr Mut habt, Prinzessin Alionora. Und Selbstlosigkeit. Aber das reicht nicht, um Königin zu sein. Das Überleben Eures Volkes – vielleicht sogar das Überleben aller Alben – hängt davon ab, wie stark Ihr seid und welche Entscheidungen Ihr trefft. Und ich kann das Schicksal der Wasseralben nicht in die Hände einer Albin legen, die nicht einmal die Winde beschwören kann.«

Mit diesen Worten wandte er sich den heranstürmenden Menschen zu. Ich konnte nicht sehen, was er machte, aber ich spürte, dass irgendetwas geschah. Die Schritte meiner Verfolger wurden langsamer, schleppender. Und dann realisierte ich es: Sie waren eingesunken. Der Boden unter ihnen hatte sich in Morast verwandelt.

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