Bruchstätte (9|2)

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Gegen Mittag stellte ich fest, dass ich auch durch intensives Grübeln keine Antworten auf meine Fragen erhalten würde. Also beschäftigte ich mich damit, meine Erinnerungen an den Gloribel-Unterricht aus meiner Kindheit wieder aufzufrischen. Leise summte ich das Silben-Alphabet, das ich damals gelernt hatte. Die Pa-Reihe fiel mir schwer, aber den Rest hatte ich erstaunlich schnell wieder im Kopf. Vielleicht war es mir doch möglich, Eldastin eine Nachricht zu senden. Allerdings musste ich dafür auf eine günstige Gelegenheit warten.

Die blieb jedoch erst einmal aus.

Im Laufe des Tages machten wir zwar mehrfach Halt und zwei Mal wurde ich sogar an einem langen Strick aus dem Käfig geholt, damit ich mich hinter einem Gebüsch erleichtern konnte, aber keiner dieser Ausflüge bot mir die Gelegenheit, den Wind zu studieren oder unbemerkt Eldastins Glücksbringer hervorzukramen.

Am späten Nachmittag spürte ich, dass sich etwas anbahnte. Wobei hörte vermutlich die bessere Bezeichnung gewesen wäre. Der Untergrund schien sich zu verändern. Die Erde wurde fester. Dazu kamen die Geräusche von Menschen, Fuhrwerken und Tieren.

Ich rappelte mich auf, kroch zu dem Loch in der Plane und spähte hinaus. Tatsächlich. Wir mussten irgendeinen Treffpunkt erreicht haben. Jedenfalls waren wir auf einmal von anderen Karren und Kutschen umgeben. Die meisten wurden von Eseln und Pferden gezogen, aber einige bewegten sich auch ganz von alleine. Diese Fahrzeuge waren mit eisernen Rüstungen versehen und spuckten Dampf – genau wie die Lok, die uns nach Prim gebracht hatte.

Sowohl die altmodischen als auch die modernen Fuhrwerke schienen in erster Linie Händlern zu gehören. Davon zeugten die Symbole und Zeichen, mit denen die Metallhauben, Planen und Kisten versehen waren. Ich entdeckte Sonne und Spinnrad der Komerse, sowie den Blumenstrauß der Varietät, des großen Gronholter Warenhauses.

Der Anblick versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Ich vermisste mein Zuhause und ich vermisste es, mir die freien Tage in der Varietät um die Ohren zu schlagen. Meist ohne etwas zu kaufen, aber mit vielen neuen Eindrücken und jeder Menge Geschenkideen.

Nach kurzer Zeit bemerkte ich neben den vielen Fahrzeugen und Gespannen auch einige Reiter in den Uniformen der weißen Garde. Rücksichtslos bahnten sie sich einen Weg durch das Gedränge.

Am Straßenrand standen viele Männer und Frauen in Wanderkleidung, die Schilder hochhielten, auf denen sie die Vorbeireisenden des Lotverrats bezichtigten. Offenbar handelte es sich um Lotrechte, die sich aus irgendeinem Grund zum Protest genötigt fühlten.

Im Hintergrund erhoben sich derweil die ersten Zelte, Buden und Holzhütten. Es wurden immer mehr, bis unser Vormarsch schließlich ins Stocken geriet und wir nur noch im Schritttempo vorwärtskamen.

»Ayk!«, rief ich, in der Hoffnung, ihn irgendwie auf mich aufmerksam machen zu können, aber mein Ruf verhallte ungehört. Kein Wunder. Die vielen Reisenden, ihre Fahrzeuge und Reittiere waren einfach zu laut.

Im nächsten Moment wurde die Plane am hinteren Ende des Käfigs hochgeschlagen. Zuerst dachte ich, Ayk könnte mich doch irgendwie gehört haben, aber dann sah ich mich zu meiner Verwunderung drei unbekannten Menschen gegenüber. Einer Frau und zwei Männern. Der robusten Kleidung nach zu urteilen, gehörten sie zu den Lotrechten, die durch ganz Hertland pilgerten, um ihre anderlingfeindliche Botschaft zu verbreiten. Sie sahen sich nach allen Seiten um und wechselten ein paar Worte, die ich nicht verstehen konnte. Ich tippte, dass es sich um einen Dialekt aus dem Norden handelte. Nur ein Wort konnte ich klar heraushören: Oberling.

Mir schwante, dass sie nichts Gutes im Schilde führten. Lotrechte mochten keine Anderlinge. Für sie waren wir schuld daran, dass der Kontinent aus den Fugen geraten war, was uns quasi zum Sündenbock für alles Leid der Welt machte.

»Ayk!«, rief ich und wich an das andere Ende des Käfigs zurück.

Keine Sekunde zu früh, denn schon zückte einer der beiden Männer eine Art Metallröhre und warf sie zu mir in den Käfig. Geistesgegenwärtig trat ich mit dem Fuß danach und kickte das Objekt gegen die eisernen Gitterstäbe. Klappernd landete es am Boden. Ein langgezogenes Zischeln ertönte und die Röhre begann, sich wie ein Kreisel um sich selbst zu drehen und dabei aus beiden Öffnungen gleißende Funken zu spucken. Die Plane wurde wieder heruntergelassen und die Lotrechten machten sich davon.

»Ayk!«, brüllte ich, während ich die Beine anzog und die Arme hochriss, um mein Gesicht zu schützen.

Es knisterte und knallte. Die Röhre schoss wie entfesselt durch die Luft und ließ einen Funkenregen auf mich niederprasseln. Ich machte mich so klein wie möglich, aber im Innern des Käfigs war es schwer, dem Geschoss auszuweichen. Hin und her zischte die Röhre, wurde von den Metallstäben abgelenkt und verkeilte sich schließlich irgendwo im Gestänge.

Kurz darauf wurde die Plane heruntergerissen.

»Zuckerfee!« Mit einem Satz war Ayk auf der Ladefläche des Karrens. »Was hast du denn angestellt?«

»Das war ich nicht!«, keuchte ich.

»Nein, natürlich nicht.« Ayk löste die Metallröhre vom Käfig und pfiff seine Kumpane herbei. »Seht euch das an.« Er hielt ihnen das funkensprühende Ding hin. »Zum Glück nur ein Glühwürmchen für die Sienada heute Abend.«

»Ein Glühwürmchen?«, wiederholte ich.

»Eine Drachenzunge.« Ayk barg die Röhre in seiner Hand. Die herausschießenden Funken schienen ihn nicht zu verbrennen. »Kaltes Feuer.«

Hinter ihm kletterte Chatte auf die Ladefläche des Karrens. Dabei stellte er sich für eine Katze eigenartig ungeschickt an, was aber vermutlich damit zu tun hatte, dass er seinen Umhang nicht verlieren oder sich anderweitig verraten wollte. »Wer war das?«, knurrte er.

»Lotrechte«, antwortete ich. Mein Herz klopfte noch immer schneller als auf Dauer gesund sein konnte. Der Schreck hatte sich tief in meinen Körper gefressen.

Ayk und Chatte tauschten Blicke.

»Natürlich«, ächzte Ayk. »Diese Bettpisser.« Er zog die Nase hoch, wandte den Kopf ab und rotzte neben dem Karren auf den Boden. Einer seiner Kumpane konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen.

»Wir müssen vorsichtiger sein«, grunzte Chatte.

Meine Panik ließ langsam nach. Mir wurde klar, dass ich nie wirklich in Gefahr geschwebt hatte.

Chatte stopfte die Hände in die Taschen seines Umhangs. »Beim nächsten Mal werfen sie vielleicht eine enferische Lunte in den Käfig.«

Ich lachte auf.

»Was gibt's da zu lachen?«

»Ach nichts.« Ich winkte ab.

»Gut. Behalten wir sie im Auge«, sagte Ayk.

Zuerst dachte ich, es würde mir nicht gefallen, im Auge behalten zu werden, aber als mir klar wurde, dass ich auf diese Weise etwas mehr von meiner Umgebung zu sehen bekommen würde, fügte ich mich schnell in mein Schicksal.

Um uns herum herrschte ein ziemliches Gewusel. Wie auf einem Markt oder Basar.

Die Häuser zu beiden Seiten der Straße waren einfache Zelt- oder Holzbauten, die augenscheinlich eilig errichtet worden waren und vermutlich ebenso schnell wieder abgebaut werden konnten. Reisende Händler mit Rucksäcken und Wanderstöcken schoben sich zwischen den Gespannen und Fuhrwerken hindurch. Marktschreier priesen ihre Waren an. Menschen mit den unterschiedlichsten Hautfarben und Dialekten wuselten durch das Gedränge. Immer wieder brachen kleinere Tumulte aus, als würden die Menschen um irgendetwas streiten.

Und dann entdeckte ich den Grund für das ganze Chaos: Eine Falte in der Sphärengrenze. Eine Klippe im Gefüge der Oberlande. Direkt über uns hatte sich ein Teil der alten Welt zu einem Gebilde aus Perlmorin verdichtet. Es ähnelte einem zu Porzellan erstarrten Wasserfall, der sich aus dem Himmel auf die Erde ergoss. Ich kannte diesen Anblick. Ich kannte ihn gut.

Wir hatten eine Bruchstätte erreicht.


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