Ein Neubeginn (6|2)

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Den ersten Teil unserer Fahrt brachte ich in einer Art Halbschlaf zu. Ich wagte es nicht, die Augen zu schließen, hatte aber eine Reihe kürzerer oder längerer Momente geistiger Abwesenheit, in denen ich einfach nur ins Leere starrte.

Als ich aus einer dieser Absencen erwachte, war es plötzlich Abend geworden und der Zug zum Stillstand gekommen. Außerdem hatte es heftig zu regnen begonnen. Rhythmisch trommelten die Tropfen auf das Dach und strömten in dünnen Bächen über die Glasscheiben. Ein Blick aus dem Fenster sagte mir, dass wir irgendein Dörfchen erreicht haben mussten. Vielleicht Bronwick oder Lebhorn. Rundherum erhoben sich niedrige Fachwerkbauten mit gelben Strohdächern, krumm und schief, wie komisch gewachsene Rüben. In den meisten Häusern brannte Licht und überzog das nasse Straßenpflaster mit einem diffusen, goldenen Schimmer. Es roch eher unangenehm nach Feuchtigkeit, verbrannter Kohle und den säuerlichen Ausdünstungen vieler Menschen. Darüber hinaus verursachte mir das viele Eisen, von dem ich umgeben war, Kopf- und Zahnschmerzen.

Vorsichtig setzte ich mich auf und entdeckte Eldastin, der mir gegenübersaß. Im Halbdunkeln schimmerten seine Augen wie Katzengold. »Wo sind wir?«, murmelte ich.

Eldastin zuckte mit den Schultern.

»Spielt auch keine Rolle ...« Ich rieb mir die Schläfen. »Es regnet und bald sollten wir die Holzlanden erreichen und in Sicherheit sein.«

»Ich denke, es wäre besser, weiterhin wachsam zu sein.«

Natürlich hatte Eldastin Recht, aber ich war zu erschöpft, um auch nur an Wachsamkeit zu denken. Wenn die Vindr jetzt angriffen, bestand meine beste Chance vermutlich darin, mich unter dem Tisch zu verkriechen und zu den Guten Winden zu beten.

Auch Eldastin wirkte müde, aber das konnte genauso gut mit den Reisebedingungen zusammenhängen. Als reinblütiger Alb musste ihm das Eisen noch deutlich stärkere Beschwerden verursachen als mir.

Auf dem Gang vor dem Abteil waren Geräusche zu hören. Die Menschen waren in Bewegung. Einige verließen den Zug. Vielleicht hatten sie Verwandte in der Gegend. Die meisten schienen jedoch weiter mitfahren zu wollen. Vielleicht bis in die Holzlanden, wo es wegen der dichten Wälder nur selten zu Vindr-Angriffen kam.

»Ich habe vorhin an Albenheim denken müssen«, sagte ich langsam, während ich das Nachjagen der Regentropfen auf dem Fensterglas beobachtete. »Wieso ...« Die Worte verendeten auf meinen Lippen. Ich fühlte mich wie eine Tänzerin auf dem Hochseil, die auf halbem Weg der Mut verließ.

»Was willst du wissen?«, fragte Eldastin.

Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Mein Mund war staubtrocken. Die Erinnerung an damals, an meine erste Sienada, hatte mich wohl deutlich mehr aufgewühlt, als ich angenommen hatte. »Damals auf der Sienada ... du weißt schon ... nach unserer Verlobung ... wieso hast du da mit meinem Bruder ... mit Prinz Nevellin gestritten?«

»Wir haben nicht gestritten.«

»Ach nein?«

Eldastin schüttelte den Kopf.

Mir fiel auf, dass er seine Haare zu einem Zopf geflochten hatte, der ihm locker über die linke Schulter fiel. Lange Haaren waren unter Alben – sowohl für Frauen als auch für Männer – ein unbezahlbares Statussymbol. Vielleicht hatte ich sie deshalb nach meiner Flucht aus Albenheim nie länger als bis zur Schulter wachsen lassen. »Aber Nevellin und du ... ihr habt euch nie verstanden, oder?«, hakte ich nach.

Eldastin kratzte sich an der Augenbraue. Ein Zeichen der Verlegenheit? Ich hätte es nur zu gerne erfahren, doch gerade als er zu einer Antwort ansetzte, wurde die Schiebetür zu unserem Abteil aufgerissen.

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