Die Sienada (9|6)

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Der Rest des Nachmittags und ein Großteil des Abends vergingen in einem typisch menschlichen Saufgelage.

Nachdem die Händler ihre Stände geschlossen und alle Arbeiter von der Bruchstätte zurückgekehrt waren, wurde es im Reitenden Recken noch voller, lauter und stickiger. Ein Trupp fahrender Musikanten mit Fideln und Flöten hatte sich im Gasthaus einquartiert und spielte munter eine Fermarkische Volksweise nach der anderen. Die Musik dröhnte mir unangenehm in den Ohren, kam aber beim menschlichen Publikum gut an. Es wurde buchstäblich auf den Tischen getanzt und so viel Alkohol vergossen, dass sich die Pfützen auf dem Boden zu Seen vereinigten. Dazu wurde fettes, gebratenes Fleisch gereicht, vermutlich eine ganze Kuhherde. Oder welche armen Geschöpfe auch immer den Jägern vor die Büchse gelaufen waren. Es war grausig mitanzusehen – und noch viel schlimmer mitanzuriechen.

Kyano, der großzügig für unsere Speisen und Getränke aufkam, schien mein Leid erahnen zu können. Jedenfalls ertappte ich ihn manchmal dabei, wie er mir einen mitleidigen Blick zuwarf.

Inzwischen hatte ich mich vom ersten Schock über seine wundersame Auferstehung erholt und brannte darauf, mit ihm allein sein zu können, um ihm ein paar Fragen zu stellen, doch natürlich ließen Ayk und Chatte mich nicht aus den Augen. Und leider schien zumindest Chatte nicht die Absicht zu haben, sich bewusstlos zu trinken.

Ganz im Gegensatz zum Rest seiner Bande, der schon kurz nach dem Einsetzen der Dunkelheit vollkommen besoffen war. Jedenfalls lallten die Männer beim Grölen der Lieder wie Matrosen beim halbjährlichen Landgang. Das konnte ich trotz ihres teilweise unverständlichen Fermark-Akzents heraushören. Gelegentlich versuchten sie sich auch am Tanzen, aber da ihre Schritte bereits sehr unsicher waren, verlegten sie sich irgendwann aufs gemütliche Schunkeln. Dabei bestand deutlich weniger Verletzungsgefahr.

Ich kauerte mich derweil auf der Sitzbank zusammen und versuchte, meine Sinne – so gut es ging – gegen die vielen, auf sie einströmenden Sinnesempfindungen abzuschotten. Doch das war gar nicht so leicht, wenn man nicht über die albentypische Abgestumpftheit verfügte.

Mein Blick wanderte zu Kyano, der sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt hatte, das schwarzhaarige Mädchen auf dem Schoß, eine Hand unter ihren Rock geschoben, mit der anderen Hand einen Bierhumpen umklammert. Die dunklen Haare verbargen seine spitzen Ohren, sodass man ihn gut für einen Menschen hätte halten können. Einen Terebier oder einen Oogler. Andererseits hatte ich ihn das Bier noch nicht trinken sehen. Also vielleicht war das alles hier schon wieder nur eine Scharade.

Instinktiv tastete ich nach dem Glöckchen in meiner Tasche. Mein Verlangen danach, an die frische Luft zu kommen, den Wind zu spüren und auf eine Botschaft von Eldastin zu lauschen, wurde beinahe übermächtig. Ich konnte es mir nur schwer erklären, aber ich empfand eine starke Sehnsucht nach seiner Anwesenheit. Nicht aus romantischen Gründen, sondern weil ich wusste, dass er mich verstanden hätte. Auf eine Art und Weise, auf die Menschen – und auch Bruin und Ludvik – mich nicht verstehen konnten. Meine albische Seite. Lange Zeit hatte ich sie vernachlässigt und mich dem Leben unter Menschen anzupassen versucht, aber sie war trotzdem noch da. Ich hasste diesen Ort, das Gegröle, die Bewegung, die Enge, die Nähe, die Wärme, die ... Körperlichkeit. Wieso musste sich alles so ... echt anfühlen, so ... fleischig?

Nur beim Gedanken daran wurde mir schon übel. Ich schämte mich, es zuzugeben, aber mit den schrecklichen Erinnerungen an Albenheim erwachten in mir auch Erinnerungen an die guten Seiten meiner Heimat. Albenheim war weit weg von ... all dem hier. Es war sicher, statisch, ruhig und kalt. Das genaue Gegenteil vom Leben unter Menschen.

Damals hatte ich diese auf Hochglanz polierte Schein-Idylle verflucht, aber heute verstand ich ein bisschen besser, warum Albenheim so sein musste. Meine Heimat war eine Zuflucht, nicht nur vor Menschen und Niederlingen, sondern auch vor ihrem Lärm und ihrer Körperlichkeit. Ein Ort wie aus Glas, an dem man auf jedes Wort und jeden Schritt achten musste. Ein Ort, an dem die menschliche Impulsivität einem besonnenen Kalkül zu weichen hatte.

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