Kartenhaus (8|1)

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Heute ist der letzte Tag des Ultimatums, das mein Vater dem Haus Aurelian gesetzt hat, um in die Verlobung von Eldastin und mir einzuwilligen. Doch eigentlich spielt es keine Rolle, was heute passieren wird. Die Tatsache, dass Eldastin die Entscheidung bis zum letzten Tag aufgeschoben hat, sagt mehr als jede offizielle Erklärung. Und ich kann es ihm nicht einmal verübeln. Falls er einwilligen sollte, wird er es nur tun, weil er die Konsequenzen einer Ablehnung fürchtet. Und falls er ablehnen sollte ... nun ... es kann unmöglich noch peinlicher werden als es ohnehin schon ist. Seit Tagen zerreißen die anderen Alben sich das Maul über mich. In ganz Albenheim gibt es kein anderes Thema. Und ich habe noch immer nicht mit Eldastin gesprochen. Inzwischen weiß ich nicht einmal mehr, ob ich das wirklich will. Was könnte ich auch sagen, um die Situation besser zu machen? Tut mir leid, dass mein Vater dich vor diese Wahl stellt? Tut mir leid, dass ich keine reinblütige Albin bin? Tut mir leid, dass ich existiere?

Unruhig wandere ich in meinem Zimmer auf und ab. Mein Herz rast und meine Handflächen sind schwitzig. Ich bin furchtbar nervös. Spätestens heute Abend wird mein Vater eine Versammlung des Hohen Rats einberufen und die Entscheidung der Aurelians verkünden. Eine Ablehnung hätte wohl mein endgültiges soziales Aus zur Folge. Trotzdem wünsche ich mir keine Zustimmung. Ich wüsste einfach nicht, wie ich damit umgehen sollte. Eldastin ist nun wirklich keine schlechte Partie, aber ich will ihn trotzdem nicht heiraten. Wenn ich schon heiraten muss, dann doch wenigstens jemanden, der mich auch heiraten möchte. Und wie sollte das überhaupt funktionieren? Würden wir uns nach der Hochzeit weiterhin aus dem Weg gehen? Oder würden wir uns irgendwie überwinden und ...? Ich will nicht einmal daran denken. Es ist einfach nicht richtig. Ich kann Eldastin das nicht antun. Er sollte irgendeine reinblütige Albin heiraten und mit ihr ganz viele hübsche Alben-Babys bekommen.

Mit einem Stoßseufzer verharre ich auf der Stelle und sehe aus dem Fenster. Die Sonne steht bereits tief hinter den Bergen. Lange kann es nicht mehr dauern.

Ein Geräusch zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Es ist der rabenähnliche Lyrenvogel, der mir zugeflogen ist. Er sitzt auf einer Stange neben meinem Bett und mustert mich aus klugen, schwarzen Augen. Als wüsste er, was ich durchmache.

»Was soll ich bloß tun?«, murmele ich.

Zwei Mal habe ich meinen Vater bereits gebeten, die Verlobung zurückzunehmen. Ich habe ihm angeboten, einfach zu verschwinden, die Stadt zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Doch das wollte er nicht. Aus irgendeinem Grund hat er es sich in den Kopf gesetzt, Eldastin und mich zu verheiraten. Warum nur? Um mich zu bestrafen? Um Eldastin zu bestrafen?

Wieder bekomme ich das drängende Gefühl, mich bei Eldastin entschuldigen zu müssen. Schon ein paar tausend Mal habe ich mir diese Unterhaltung im Kopf vorgestellt. Meistens endet sie damit, dass er mir sagt, wie hässlich ich bin und dass ich nie wieder mit ihm reden soll. Aber an guten Tagen – an den wirklich guten Tagen – ist er netter. Dann sagt er mir, dass diese Misere nicht meine Schuld ist. Dass ich mir keine Gedanken machen soll und er sich um alles kümmern wird. Manchmal nimmt er dabei sogar meine Hand und ich stelle mir vor, wie die anderen Alben vor Überraschung die Augen weit aufreißen und noch blasser werden. Wieso gibt er sich mit ihr ab?, höre ich sie denken. Was findet er bloß an ihr? Könnte es sein, dass wir uns geirrt haben? Haben wir etwa die ganze Zeit zu Unrecht über sie gelacht?

Ich weiß, das ist alles nur Wunschdenken. Nichts davon wird jemals passieren. Aber ich ... ich wünschte ...

Nur mit Mühe kann ich meine Gefühle herunterschlucken. Sie brennen in meinem Hals wie Säure.

»Alina?«, höre ich Nevellin rufen. »Bist du präsentabel? Oder ... na ja ... zumindest sowas in der Art?«

Mein Blick zuckt zum Wandspiegel. Ich trage eine Wasira, ein albisches Festtagsgewand, das auf komplizierte Weise um den Körper gewickelt wird. Der Stoff besitzt einen hübschen Farbverlauf von hellblau bis blassgelb, der an einen Sonnenaufgang erinnert, und ist mit vielen silbernen Bändern und Glöckchen geschmückt, die jede meiner Bewegungen mit einem anmutigen Schwung und einem leisen Klimpern untermalen. Es ist mit Abstand das schönste Kleid, das ich besitze. Natürlich würde es an der hochgewachsenen und gertenschlanken Oriane besser aussehen, aber ich fühle mich gut darin. Nur die kurzen Haare sind ein Problem. Damit sehe ich aus wie ein Menschenjunge.

»Ja, ich bin soweit«, rufe ich zurück.

»Dann komm! Vater will dich sehen.«

Mein Herz bewegt sich abwärts, mein Magen aufwärts. Ich schlucke die Übelkeit herunter, werfe noch einen letzten Blick in den Spiegel, unterdrücke den Impuls, mir etwas Farbe in die Wangen zu klopfen, und husche zur Tür.

Mein Zimmer befindet sich im Königspalast, dem Stammanwesen von Haus Lupercalian. Das Schloss thront über der Stadt, die wie ein mächtiger Pfeiler in den Himmel ragt. Aus der Ferne erinnert sie an eine schneeweiße Säule, doch aus der Nähe erkennt man die vielen unterschiedlichen Gebäude, die den Korpus Albenheims ausmachen und an manchen Stellen wie Reliefs daraus hervorragen. Jedes Haus trägt seinen Teil zur Stabilität der Stadt bei und würde man nur eines entfernen, könnte das ganze Gebilde wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Als Kind fand ich diese Metapher ansprechend, beinahe romantisch, doch jetzt erscheint sie mir wie eine konstante Bedrohung.

Ich folge dem langen Korridor vor meinem Zimmer bis zu einer kreisrunden Aussparung in der Decke, wo Nevellin auf mich wartet. Da es in diesem Teil Albenheims keine Treppen gibt und ich kein Talent besitze, bin ich darauf angewiesen, getragen zu werden.

»Bereit?«, fragt Nevellin mit neugierig funkelnden Augen. Seine silbrig schimmernden Haare sind zu einer komplizierten Festtagsfrisur aufgesteckt. Als ich darauf nicht antworte, ergänzt er: »Die Aurelians sind gerade eingetroffen.«

Mein Atem stockt und mein Magen schlingert. »Eldastin auch?«, frage ich vorsichtig.

Nevellin nickt. »Scheint, als hätte er sich deiner erbarmt.«

»Denkst du?«

»Sieht so aus.« Nevellins schmales Gesicht bekommt einen spöttischen Zug. »Hast du etwas Anderes erwartet?« Er legt eine Hand an mein Kinn und dreht meinen Kopf so, dass er mich direkt ansehen kann.

Ich schlage die Augen nieder und weiche seinem forschenden Blick aus.

»Mein armes kleines Äffchen«, säuselt Nevellin. »Du hast doch nicht wirklich gedacht, dieser Aurelian würde sich dem Willen seines Königs verweigern? Er mag ein Unruhestifter aus einer Familie voller Verrätern sein, aber er ist nicht lebensmüde.«

»Lebensmüde?«, wiederhole ich entsetzt.

»Natürlich«, erwidert Nevellin. »Sich dem Wunsch seines Königs zu widersetzen, hätte ernste Konsequenzen. Nicht nur für ihn, sondern auch für den Rest seiner Familie. Mit Sicherheit hätte Vater seine Weigerung zum Anlass genommen, endlich gegen die Aurelians vorzugehen.« Er überwindet seine albentypische Zurückhaltung und zieht mich zu sich heran, sodass ich die Arme um seine Taille schlingen kann, und senkt die Stimme zu einem Raunen. »Hast du ernsthaft gedacht, er würde sich für dich entscheiden, wenn weniger als sein Leben auf dem Spiel stünde?«

Ich höre seine Beleidigungen schon gar nicht mehr. Jedenfalls nicht mit den Ohren oder dem Verstand. Doch mein Körper verkrampft sich unwillkürlich und da wir uns so nahe sind wie zwei Liebende, entlockt ihm meine Reaktion ein schadenfrohes Schmunzeln.

Dann beschwört er einen Windstoß herauf und katapultiert uns beide durch das Loch in der Decke in den Vorraum des Thronsaals.


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