Abschied von Gronholt (5|5)

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Da sie mich in der Menge nicht ausmachen konnten, änderten die Vindr ihre Taktik und begannen, auf der Suche nach mir jeden einzelnen Stein – das heißt: Menschen – umzudrehen. Wie Seeadler auf der Jagd nach Karpfen fuhren sie in die Menge, packten einen Mann oder eine Frau und zerrten sie mit sich in die Luft. Anschließend ließen sie ihre Opfer wieder zurückfallen.

Die Menschen versuchten, ihnen auszuweichen und stoben erneut in alle Richtungen davon. Mit wenig Erfolg. Ihr Geschrei und Gestöhne, die Geräusche ihrer berstenden Knochen, waren markerschütternd. Ich konnte davor weder meine Ohren noch mein Herz verschließen.

»Was habt Ihr vor?«, keuchte Balinn, als ich mich umdrehte und in die Halle zurückkehrte. »Nein, nein, macht das nicht, macht das-«

Er kramte in den Innentaschen seines Umhangs und zog nach kurzer Suche einen Gegenstand hervor, den ich als sunnerisches Schutzartefakt identifizierte. Es war gut an der gewellten Oberfläche und an den schlangenartigen Vertiefungen zu erkennen. Ich vermutete, dass dort irgendetwas hineinpasste. Möglicherweise waren diese Artefakte auf bestimmte Weise gestapelt worden, um ihre Kraft zu verstärken. Jedenfalls waren sunnerische Artefakte ihrer Natur nach leuvisch. Das bedeutete, sie mussten aktiviert werden, bevor sie ihre Wirkung zeigten. Dies geschah üblicherweise über einen Mechanismus, der an eine Aufzieh-Taschenuhr erinnerte.

»Achtung!«, brüllte Balinn, während er den Mechanismus betätigte.

Dann holte er aus und warf das Artefakt nach den Vindr. Es war das erste Mal, dass ich diese Mechanik außerhalb des Labors im Einsatz sah. Im Grunde wusste ich, was passieren würde, und dennoch traf es mich unvorbereitet.

Mit einem gut hörbaren Ploing-Geräusch breitete sich die Schutzsphäre aus.

Ich versuchte, ihren Durchmesser zu schätzen. Sicher zwanzig oder dreißig Meter. Jedenfalls sprengte sie das Dach und schleuderte die Vindr zusammen mit einem Regen aus Steinen und Glasscherben zurück auf die Straße.

»Unglaublich, oder?«, fragte der Professor und rieb seine Brillengläser, als wüsste er nicht, ob er seinen Augen trauen konnte.

»Das sind mindestens zwanzig Meter«, hauchte ich. Ein Kribbeln entstand unter meiner Kopfhaut und in meiner Magengrube.

Der Professor lächelte. »Ich weiß.«

»Zwanzig Meter!«, wiederholte ich. »Das ... das ändert alles!«

Einer der Studenten kam, schälte sich aus seiner Uniformjacke und legte sie mir um die Schultern.

»Wenn diese Artefakte derart große Schutzsphären erzeugen können, dann haben die Alben sie vielleicht nicht nur zum Selbstschutz verwendet, sondern auch zum Schutz ihrer Häuser. Möglicherweise haben sie sich das bei den Asteriern und ihren Lichtartefakten abgeschaut. Das würde bedeuten, die Vertiefungen an der Oberfläche könnten eine bautechnische Bedeutung haben und der Mechanismus-«

»Ja, ja und ja«, fiel der Professor mir ins Wort.

Trotz seines abwiegelnden Tonfalls erkannte ich in seinen Augen die gleiche Leidenschaft, wie ich sie selbst verspürte. Es war ein selten gewordener Moment der Eintracht zwischen uns. Unsere Persönlichkeiten auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert: Auf unsere Liebe für die albische Kultur vor dem Großen Sturz.

»Aber Ihr müsst jetzt gehen«, ergänzte der Professor fast schon väterlich. »Damit Albenheim eine Zukunft hat.«

Ich hielt in meinem Eifer inne. Mir wurde klar, dass er Recht hatte.

Mit einem starken Gefühl des Bedauerns ließ ich mir von dem Studenten seinen roten Filzhut aufsetzen und zog ihn mir über die spitzen Ohren. Dann zwängte ich mich an den Verletzten vorbei in die Gleishalle.

Das Erste, was ich dort sah, war die gewaltige Trieblok. Ein Ungetüm aus Gusseisen und Stahl, mit einer langen, zylinderförmigen Schnauze, einem Vorratswagen für die Wasser- und Kohlevorräte und blutrot gestrichenen Rädern, die über mächtige Treib- und Kuppelstangen miteinander verbunden waren.

Dahinter reihten sich die Passagierwagen aneinander. Die Waggons der zweiten Klasse waren kastenförmig und in einem schlichten Grünton gehalten, die Waggons der ersten Klasse fielen durch ihre abgerundeten Kanten und goldenen Ornamente auf.

Im Moment achtete jedoch niemand auf Zugtickets oder andere Privilegien. Alle zwängten sich in die Waggons, in der Hoffnung, aus der Stadt zu entkommen, bevor die Vindr erneut angriffen.

Aus dem Rauchfang der Trieblock drang bereits eine dunkelgraue Dampfwolke. Die Heizer schaufelten, was ihre Armmuskeln hergaben. Es stank intensiv nach Kohle und Maschinenöl. Vermutlich würde der Zug bald losfahren.

Ich steuerte den letzten Waggon an, überholte dabei eine Familie mit zwei heulenden Kindern und eine ältere Dame, die einen Karton mit Katzenbabys auf den Armen trug. Dann zog ich mich ins Innere des Wagens, verbrannte mir die Hand an einem eisernen Haltegriff und schob mich an den Menschen, die im Gang herumstanden, vorbei in eines der Abteile.

Auch hier gab es nur noch Stehplätze. Wir waren wie die Sardinen in der Dose.

Ein starkes Gefühl des Ausgeliefertseins überkam mich.

Ich kämpfte es nieder, kauerte mich hinter der Tür zusammen und schloss die Augen. Von den vielen Menschen um mich herum, ihren Stimmen und Gerüchen wurde mir übel. Ich kämpfte auch dagegen an. Dabei fragte ich mich, was die Vindr wohl als nächstes planten. Und wieso konnte der Zug nicht einfach losfahren?

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich einen Mann mit einem zotteligen Bart, der einen handgeknüpften Überwurf über der Kleidung trug und einen langen Hirtenstock mit einer abgewinkelten Spitze in der Hand hielt.

Ein Lotrechter, schoss es mir durch den Kopf.

Die Lotrechten waren eine Art religiöse Vereinigung. Sie glaubten jedoch nicht an irgendeinen Gott, sondern daran, dass die Welt durch den Großen Sturz Schieflage bekommen hätte. Aus dem Lot gekommen war. Ihrer Meinung nach müsste man diesen Zustand unbedingt beseitigen, andernfalls würde unsere Welt schon sehr bald untergehen. Dies zu verhindern sei jedoch nur durch die Beseitigung aller Anderlinge möglich.

Ich zog mir die Mütze tiefer ins Gesicht und überprüfte, dass sie auch wirklich meine Ohren verbarg. Zum Glück befreiten mich meine Sommersprossen in der Regel von dem Verdacht, eine Albin zu sein. Ich war schlicht nicht makellos genug. Selten war ich so froh darüber gewesen.

Endlich ging ein Ruck durch den Zug. Schwerfällig setzte er sich in Bewegung. Verhaltener Jubel breitete sich aus.

Ich spähte aus dem Fenster. Ein paar Menschen liefen dem Zug nach, konnten ihn aber nicht mehr einholen. Der Bahnsteig und das imposante Glasdach der Gleishalle blieben hinter uns zurück. Von den umliegenden Gebäuden stieg Rauch auf. Vindr kreisten über dem Viertel, wurden aber von den Kanonen, die auf der Ringmauer postiert waren, auf Abstand gehalten. Drachenkrieger, die auf den begrünten Dächern des Blumenviertels herumturnten und mit großen Schießeisen hantierten, winkten uns zu.

Unwillkürlich musste ich an Ludvik und Bruin denken. Ich hoffte, dass es ihnen gut ging. Gleichzeitig war ich froh, dass ich keine Gelegenheit gehabt hatte, mich von ihnen zu verabschieden. Andernfalls hätten die zwei sicher darauf bestanden, mich zu begleiten. Und so gerne ich sie auch bei mir gehabt hätte, konnte ich es doch nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, sie derart in Gefahr zu bringen.

Noch während ich das dachte, nahm ich auf einmal einen schwachen Windzug wahr. Gleichzeitig wurde die Luft im Abteil merklich dünner. Mein Herz klopfte schneller und mein Atem ging flacher. Ich fasste mir an den Hals und hüstelte. Den Menschen um mich herum erging es ähnlich. Sie räusperten sich verkrampft und husteten in ihre Hände und Ärmel. Ein Mann verließ das Abteil und quetschte sich zu den restlichen Passagieren in den Gang. Zwei Frauen – Schwestern wie es schien – folgten ihm. Der Lotrechte hielt es etwas länger aus, aber schließlich musste er sich ihnen keuchend und verzweifelt nach Luft schnappend anschließen.

Kaum hatte sich das Abteil bis auf meine Wenigkeit geleert, glitt Eldastin über die Schwelle. Sanft schloss er die Tür hinter sich, rutschte auf die Bank vor dem Fenster, faltete die Hände auf dem Tisch und sah mich an. »Tut mir leid, aber das war notwendig.«


ALBENBLUTWhere stories live. Discover now