Siffluera (6|1)

96 30 22
                                    

Die Alben tanzen im Abendlicht. Ihre Kleider – die der Männer immer etwas farbenfroher als die der Frauen – wiegen sich mit ihnen in einem verspielten Reigen, bewegen sich im Einklang mit den Winden, zum sanften Rhythmus einer melancholischen Melodie. Alben haben viele Tänze. Jeder mit einer langen Geschichte und einer besonderen Bedeutung. Wie eine eigene Sprache. Und jeder Alb besitzt seinen unverkennbaren Dialekt. Beim Tanzen berühren sie kaum den Boden. Sie erinnern an zarte, beinahe durchscheinende Quallen, die in den Strömungen des Ozeans treiben und dabei wiederkehrende Formationen und Anordnungen bilden, die wie Muster im Nebel entstehen und wieder verschwinden. Ich könnte ihnen ewig zusehen.

Nevellin, mein ältester Bruder und Kronprinz der Alben, tanzt im Zentrum des Festsaals, dessen Wände fast vollständig aus irisierendem Perlmorin bestehen und im goldenen Schein der Abenddämmerung zu glühen scheinen. An der Westseite geht der Saal in einen offenen Säulengang über, der den Wind hereinlässt, sodass er zwischen den Tanzenden umherstreifen kann. Mein Halbbruder ist genauso hochgewachsen und blass wie die anderen Anwesenden. Sein langes Haar schimmert als wäre es aus Silberfäden gesponnen. Seine Bewegungen sind hypnotisierend, von einer überirdischen Eleganz und einer ätherischen Anmut.

Das Gleiche gilt auch für Oriane Aurelian. Wie ein zartes Blütenblatt schwebt sie auf den Luftströmungen und die blonden Haare umwehen ihr liebliches Gesicht wie ein Brautschleier. Sie ist so schön, dass ich es kaum in Worte zu fassen vermag. Ihr Körper ist schlank und feingliedrig, ihr Gesicht makellos, ohne die winzigste Unregelmäßigkeit. Neben ihr komme ich mir zwangsläufig wie ein Mauerblümchen vor – oder eher wie Unkraut. Doch schlimmer als das ist, dass alle Oriane für nett halten. Und das ist sie auch. Sie redet nicht viel, aber weiß immer das Richtige zu sagen. Jeder liebt sie. Jeder will von ihr gemocht werden. Ich auch. Deswegen fällt es mir auch so schwer, ihr Boshaftigkeit zu unterstellen. Und es ist ja nicht so, als ob sie mich gepackt und mir die Haare eigenhändig abrasiert hätte. Nein. Sie hat mich dazu überredet, sie mir abzuschneiden. Hat mich davon überzeugt, dass es in Albenheim Tradition wäre, sich zur Sienada von seinem Zopf zu trennen.

Aber natürlich bin ich die Einzige, die mit kurzen Haaren zum Fest erschienen ist und Oriane behauptet, ich hätte sie in meiner menschentypischen Einfältigkeit missverstanden. Dabei sieht sie so unschuldig drein, dass ihr niemand etwas Böses unterstellen will. Sogar ich habe den Fehler zuerst bei mir gesucht. Doch welche Rolle spielt das jetzt noch? Jeder Alb weiß, dass ich nicht hierhergehöre. Mit meinen kurzen Gliedern, den straßenköterblonden Haaren, den Sommersprossen und den kantigen, zu scharf geschnittenen Gesichtszügen. Trotzdem soll ich den ältesten Sohn von Haus Aurelian heiraten, Orianes Bruder. Eldastin Aurelian.

Ich suche ihn in der Menge, kann ihn aber nicht entdecken. Seit mein Vater vor einem halben Jahr die Verlobung offiziell verkündet hat, habe ich ihn nur ein oder zwei Mal gesehen. Das ist eigentlich nicht verwunderlich, denn in Albenheim ist es unüblich, dass unverheiratete Männer und Frauen Kontakt zueinander haben. Nur bei den Hohen Festen kommen sie zum Tanz zusammen. Dennoch habe ich das Gefühl, dringend mit Eldastin sprechen zu müssen. Und sei es nur, um ihm zu sagen, dass diese Hochzeit nicht meine Idee war. Dass ich lieber nicht heiraten würde. Dass es mir leid tut. Ich habe keine Ahnung, wieso mein Vater diese Heirat arrangiert hat. Es ist offensichtlich, dass Eldastin und ich nicht zusammenpassen. Das Haus Aurelian ist sehr einflussreich und ich bin mir sicher, er könnte jemanden finden, der besser für ihn ist als ich. Vermutlich ist das der Grund, aus dem er die Verlobung noch nicht offiziell bestätigt hat. Natürlich ist es eine große Ehre, eine Prinzessin heiraten zu dürfen, doch ich bin nicht wie meine Schwestern. Eldastin muss sich fühlen, als wäre er mit einem Affen verlobt worden.

Kaum habe ich das gedacht, entdecke ich ihn auf der anderen Seite des Saals. Zu meiner Überraschung ist er nicht zum Tanzen gekleidet, sondern trägt eine Leipa, eine Art Uniform, die eigentlich nur von Kriegern getragen wird. Sie besteht aus einer enganliegenden Hose, einem knielangen Mantel und einem gepolsterten Sarrock aus leichtem Leder und kleinen, kreisrunden, zum Teil vergoldeten Zinnplättchen. Ebenfalls aus gegerbtem Leder sind seine Armschützer und der Gürtel um seine Hüfte, an dem ein Mirisa – ein gebogenes Albenschwert aus Iarann-Stahl – befestigt ist. Sein aschblondes Haar ist zu einem langen Zopf geflochten und er wirkt gehetzt. Unruhig wandert sein Blick durch die Halle und gleitet dabei über mich hinweg als wäre ich Luft. Dann entdeckt er meinen Vater, der am Rand des Saals in ein Gespräch mit Beltane aus dem Haus Bealtian vertieft ist. Seine Gemahlin Litha wartet etwas abseits und nippt gelangweilt an einem Kristallglas mit Zuckersirup. Ohne weiter zu zögern, drängt Eldastin sich durch die Menge. Die Tanzenden weichen vor ihm zurück und machen ihm Platz. Jeder in Albenheim respektiert Eldastin. Was das angeht, ist er das männliche Pendant zu seiner Schwester.

Um ihn abzufangen, steuere ich ebenfalls meinen Vater an. Dabei begegne ich mehreren Alben in meinem Alter, die mich und meine kurzen Haare abschätzig beäugen und sich keine Mühe geben, ihre Abneigung zu verheimlichen. »Siffluera« nennen sie mich. Das bedeutet so viel wie »Dreckgeburt«. Wenn sie so über eine meiner Schwestern gesprochen hätten, wäre ihnen schnell das Maul gestopft worden. Zuerst von meinen – für albische Verhältnisse – hitzköpfigen Halbbrüdern und anschließend von meinem Vater. Doch bei mir sagen alle, Siffluera wäre keine Beleidigung, sondern die Wahrheit.

Ich ignoriere die Blicke der anderen Alben und schiebe mich am Rand des Saals entlang. Als ich etwa die Hälfte der Strecke hinter mich gebracht habe, bricht zwischen den Tanzenden ein Tumult aus. Zuerst kann ich nicht genau erkennen, was dort vor sich geht, aber dann entdecke ich Eldastin und Nevellin, die sich Auge in Auge gegenüberstehen. Eldastin senkt respektvoll den Kopf und will sich an meinem Bruder vorbeischieben, aber Nevellin verstellt ihm erneut den Weg. Dann sagt er etwas, das ich nicht verstehe. Mein Albisch ist zwar ganz gut, aber Nevellin redet so schnell, dass ich Schwierigkeiten habe, ihm zu folgen. Es klingt jedoch vorwurfsvoll, beinahe aggressiv. Eldastin muss irgendwas gemacht haben, das ihm nicht passt. Was nicht besonders schwer ist, weil mein Halbbruder ein unausstehliches Temperament besitzt und manchmal Streit zu suchen scheint, um sich die Zeit zu vertreiben.

Vorsichtig schleiche ich mich näher an die beiden heran. Schon nach ein paar Schritten werde ich von einem Luftzug erfasst. Ich sehe mich um und blicke in das Gesicht von Oriane, die spöttisch auf mich herabsieht, bevor sie sich auf den Luftströmungen tanzend von mir entfernt. Jedoch nicht, ohne mich ein paar Meter davonzuwirbeln. Haltlos taumele ich durch die Menge, werde von einem weiteren Windstoß ergriffen und davongetragen. Die Alben machen sich einen Spaß daraus, mich wie einen Spielball hin und her zu schieben und ich kann nichts dagegen tun, da ich selbst keine Kontrolle über den Wind habe. Das alberne Spielchen endet erst, als ich völlig desorientiert mit einem Alben zusammenstoße, abpralle und zu Boden gehe. Benommen verharre ich auf den Knien und warte, bis die Welt um mich herum wieder zum Stillstand gekommen ist. Dann hebe ich den Kopf und muss zu meinem Entsetzen erkennen, dass ich gegen Eldastin geprallt bin. Er scheint jedoch kaum Notiz von mir zu nehmen. Seine farblosen Augen sehen einfach über mich hinweg, als wäre ich es nicht wert, dass er mich eines Blickes würdigt.

»Huch ...«, sagt Nevellin in die entstandene Stille. »Was will denn diese haarlose Ratte hier?«

Für einen kurzen Moment scheinen die anderen Alben die Luft anzuhalten und ich hoffe wider besseres Wissen, dass Eldastin irgendetwas sagen würde. Irgendetwas, um Nevellin zurechtzuweisen, aber stattdessen setzt er seinen Weg fort, zwängt sich an meinem Halbbruder vorbei und verschwindet mit einem kühlen Luftzug in der Menge. Kaum hat er sich zurückgezogen, bricht das Gelächter wie eine aufgestaute Flutwelle über mich herein. Sogar mein Vater und meine Stiefmutter lachen. Gedemütigt rappele ich mich auf und flüchte aus dem Saal. Meine Brust schmerzt und meine Augen brennen – und mir wird bewusst: Ich ertrage diese Behandlung keinen Tag länger.


ALBENBLUTWhere stories live. Discover now