Zuckersirup (5|2)

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Ich fröstelte. Irgendwie hatte ich das schon befürchtet. Vermutlich musste ich mich daran gewöhnen, von mächtigen Kreaturen gejagt zu werden. Die Zeit, in der ich unerkannt und weitgehend unbehelligt unter Menschen leben konnte, war vorbei.

Es fiel mir schwer, das zu akzeptieren. Auch dass mein Vater und meine Geschwister tot sein sollten, kam mir vollkommen surreal vor. Wie ein Albtraum, der mich ins Wachsein hinein verfolgte.

Mein Herz sank und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass alles einfacher wäre, wenn ich Albenheim nie verlassen hätte. Vielleicht hätte ich irgendetwas tun können, um dieses Drama zu verhindern. Vielleicht hätte ich meinen Vater retten können.

»Hast du Schmerzen?«, fragte Eldastin.

Seine Frage traf mich unvorbereitet. Ich horchte in mich hinein. Meine Schulter pochte, meine linke Hand fühlte sich taub an, mein Kinn brannte. Davon abgesehen war ich in erster Linie müde und hungrig.

»Was machen wir jetzt?«, erwiderte ich, ohne auf seine Frage einzugehen.

»Als Erstes sollten wir die Stadt verlassen«, antwortete Eldastin.

Ich nickte. »Ja, natürlich ...«

Eldastin bückte sich und stellte das Glas mit der Salbe auf dem Boden ab, dann richtete er sich wieder auf und ließ seinen Blick durch die Stube schweifen.

Ich schämte mich für die Unordnung, die Ludviks Drachenkrieger hinterlassen hatten und die ich gestern nur unzureichend beseitigt hatte. Aber vermutlich hätte ich mich auch geschämt, wenn ich drei Tage lang geputzt und geschrubbt hätte. Meine kleine Mietswohnung war einfach kein Vergleich zu den Palästen in Albenheim.

»Hier hast du dich also die ganze Zeit versteckt?«

»Ja ...« Ich räusperte mich und wiederholte: »Ja.«

»Und niemand hat je herausgefunden, wer du wirklich bist?«

»Ich glaube nicht«, antwortete ich unsicher. »Wie hast du mich gefunden?«

»Die Winde haben es mir gesagt.«

»Ach ja ... natürlich«, murmelte ich. »Dann hätte Vater mich auch jederzeit finden können?«

»Ich denke, er wollte dich nicht unter Druck setzen.«

»Er hat sich nie für mich interessiert.«

»Er hat dich aufgenommen, als du niemanden mehr hattest.«

»Keine Ahnung, warum er das gemacht hat.« Ich stand auf und ging in die Wohnstube hinüber. Durch die Vorhänge brach gedämpftes Tageslicht herein und malte blasse Schemen auf den Dielenboden. »Er hätte mich auch einfach irgendwo aussetzen können.«

»Vermutlich fühlte er sich für dich verantwortlich.«

»Hat er dir je etwas über meine Mutter erzählt?«

Eldastin zögerte kurz, dann sagte er: »Ich weiß nicht, was du über uns denkst, aber dein Vater und ich stehen uns nicht sonderlich nahe.«

Ich ging zu einem der Schränke und nahm eine Flasche mit Zuckersirup hinaus. Gekühlt schmeckte er besser, aber wenigstens würde er den säuerlichen Blutgeschmack aus meinem Mund vertreiben. »Immerhin wusstest du, dass er meine Mutter während seiner Lehrzeit in Hertland kennengelernt hat.«

»So erzählt man es sich in Albenheim.« Eldastin kam mir nach und lehnte sich in den Türrahmen. »Sie soll eine lyrische Prinzessin gewesen sein.«

»Ihr Geschlecht wurde ausgerottet.«

»In Lyrien überlebt kein König länger als zwei Jahre.«

Ich lächelte und hielt Eldastin eine zweite Sirupflasche hin.

ALBENBLUTWhere stories live. Discover now