Eins, zwei oder drei (5|4)

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Beim Anblick der Soldaten blieb ich abrupt stehen und drückte Eldastins Hand. Oder besser: Ich quetschte Eldastins Hand. Er ließ es kommentarlos über sich ergehen und zückte seine Maribel.

Die Soldaten machten jedoch keine Anstalten, ihre Waffen zu ziehen und uns zu verhaften. Sie bauten sich lediglich vor uns auf und versperrten uns mit verschränkten Armen den Weg ins Innere des Bahnhofs. Ihre Mienen waren kalt und verschlossen, als hätten sie sich fest vorgenommen, nichts von dem, was gleich passieren würde, an sich heranzulassen. Die blank polierten Messingknöpfe an ihren Uniformen blinkten im Sonnenlicht, das sich nur mühsam einen Weg durch die rauchgeschwängerte Luft bahnte.

»Das ist sie!«, hörte ich jemanden rufen. »Die Albin, nach der die Vindr gesucht haben!«

Ich fuhr herum und bemerkte, dass unsere Verfolger aufgeholt hatten. Die Menschen ließen sie einfach passieren, als wollten sie, dass Eldastin und ich vom aufgebrachten Mob in Stücke gerissen wurden. Bei diesem Gedanken wurde mir erst eiskalt und dann glühend heiß. Nicht aus Wut, sondern vor Scham. Es war das Eine, tief im Herzen zu befürchten, dass man Schuld am Tod vieler Menschen war, und etwas vollkommen Anderes, in aller Öffentlichkeit beschuldigt zu werden. Ich wollte mich rechtfertigen und erklären, dass ich nichts vom Angriff der Vindr oder dem Tod meines Vaters gewusst hatte. Dass meine Schuld also allerhöchstens eine Teilschuld war. Dass ich es nicht gewollt hatte – und das musste doch auch etwas zählen, oder? Aber ich tat nichts dergleichen, weil ich wusste, dass es keinen Sinn gehabt hätte. Niemand würde mir zuhören. Geschweige denn glauben.

Die Männer mit den behelfsmäßigen Waffen kamen einige Meter vor uns zum Stehen. Einer von ihnen – ein grobschlächtiger Schlägertyp mit kurzgeschorenen Haaren und einem irren Blick – hob drohend seinen metallverstärkten Dreschflegel.

Als Reaktion darauf schnippte Eldastin seine Maribel in die Luft.

Instinktiv hielt ich den Atem an. Die Zeit schien langsamer zu vergehen. Tausend Eindrücke prasselten gleichzeitig auf mich ein. Die verärgerten Gesichter der Menschen. Die tiefen Furchen, die Angst und Wut in ihre Mienen gegraben hatten. Die funkelnden Rußteilchen, die zwischen uns in der Luft schwebten. Eine Lichtreflexion in einem Fenster, das aufgestoßen wurde. Die neugierigen Köpfe, die aus der entstandenen Öffnung lugten. Das ferne Läuten von Glocken. Der aufkommende Wind, der den bitteren Gestank von Rauch und Sphärengas vor sich hertrug.

Lauf, Alina ...

Die Stimme schien von weit her zu kommen und sich mit dem Raunen des Windes, der durch die Straßen fegte und dabei Asche, Laub und weggeworfene Flugblätter aufwirbelte, zu vermischen.

Sie kommen, Alina ...

Mein Blick huschte zu Eldastin, der genau in diesem Moment zum Himmel hinaufspähte.

Das Glockengeläut wurde lauter. Und dann war da noch etwas Anderes: ein Flattern und Rauschen. Wie ein Segel im Sturm.

Lauf, Alina ...

Der Wind strich über meine Haut und die feinen Härchen an meinen Armen und an meinem Nacken stellten sich auf. Das Kribbeln kroch mir bis in die Knochen. Bis hinein ins Mark. Ich spürte, wie Eldastin seine Finger aus meiner Hand löste.

Im nächsten Moment geschah alles gleichzeitig.

Am anderen Ende der Straße stürzte ein brennendes Etwas aus dem Himmel und entzündete eines der Wohnhäuser. Stroh und Holzwolle gingen beinahe augenblicklich in Flammen auf. Ein angsterfülltes Raunen mäanderte durch die Menge. Gefolgt von einem kollektiven Keuchen, als mehrere Vindr aus einer heraufziehenden Wolkenfront brachen.

Eldastin versetzte mir einen Schubs. Ich wurde von einem Luftzug erfasst und rutschte zwischen den überraschten Soldaten hindurch in die Bahnhofshalle. »Lauf, Alina!«

ALBENBLUTWhere stories live. Discover now