Mican (9|5)

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Wie gelähmt starrte ich Kyano an. Und er starrte zurück. Es war unmöglich, aber es war die Wahrheit. Seine überraschte Reaktion bestärkte mich in meiner Vermutung. Er wusste, wer ich war. Und ich wusste, wer er war.

Obwohl Kyanos Hinrichtung schon über fünfundzwanzig Jahre zurücklag und ich den Vorfall – genau wie viele andere Erlebnisse aus meiner Kindheit und Jugend – aus meinem täglichen Bewusstsein gestrichen hatte, sah ich ihn jetzt wieder vor mir, als wäre es erst gestern gewesen. Gefoltert. Gefesselt. Blutverschmiert. Stumme Worte flehend.

Aber vielleicht hatte er Eldastin auch gar nicht angefleht, ihn zu verschonen. Vielleicht war das Ganze bloß ein Schauspiel gewesen.

Nur ... warum? Um meinen Vater und die anderen Alben-Lords zu täuschen? Hatte ich Eldastin damals Unrecht getan? War Kyanos grausame Hinrichtung nur eine Farce gewesen?

Die Konsequenzen dieser unerwarteten Entwicklung stürzten wie eine Lawine auf mich ein.

Ich verspürte den bizarren Impuls, aufzuspringen und wegzurennen, doch das war schon allein wegen des Stricks und der Gewichte keine Option.

Also saß ich nur da und lauschte dem Dröhnen, mit dem meine so klar und geordnet geglaubte Welt zusammenstürzte. Plötzlich ergab nichts mehr einen Sinn. Die Umgebung verschwamm vor meinen Augen und das Blut rauschte mir in den Ohren.

Daher nahm ich Kyano auch erst wieder richtig wahr, als er sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen ließ. Ich versuchte, die Schleier vor meinen Augen wegzublinzeln und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Chatte kam mir zuvor.

»Da bist du ja, Mican«, knurrte er ungehalten.

Kyano schlug ein Bein über das andere und wippte mit dem Fuß. Seine Augen waren von einem leuchtenden Ozeanblau, so intensiv und strahlend, dass es beinahe widernatürlich wirkte. »Ich hätte nicht gedacht, dass du so früh hier eintreffen würdest, Tom.« Sein Blick wanderte zu mir. »Oder dass du in so charmanter Gesellschaft sein würdest.«

»Sie ist nur ein Auftrag«, erwiderte Chatte mit einer wegwischenden Handbewegung. »Und nicht von Belang für das, was wir zu besprechen haben.«

Ganz langsam dämmerte mir, dass Chatte und Kyano einander kannten. Nur, dass Chatte den Alben Mican genannt hatte.

Und noch etwas wurde mir klar: Offenbar ahnte mein Entführer nicht, dass Kyano wusste, wer ich war. Wieso hätte er das auch ahnen sollen? Nicht jeder dahergelaufene Wasseralb wusste, wie die Exil-Prinzessin der Sturmalben aussah. Außer Kyano, Prinzessin Skarabelle, einem Teil ihres Hofstaates, einer Stadtwächterin und einem Mitarbeiter der Gronholter Wasserversorgungsbetriebe war ich in meinem Leben noch keinem Wasseralben begegnet.

»Nun ...? Was ist mit unserer Abmachung?«, wollte Chatte wissen.

Kyano wandte sich von mir ab und ihm zu. »Was soll damit sein? Du bezahlst, ich liefere. Ganz einfach.«

Chatte nickte, schwieg einen Moment und sagte dann: »Freies Geleit nach Koseldam und von dort nach Dorrlitz, sobald ich aus Malachit zurückkehre. Keine Komplikationen, keine nassen Socken, keine Fragen.«

»Seh' ich aus wie jemand, der Fragen stellen würde?«, entgegnete Kyano amüsiert. Beim Lächeln bildeten sich kleine Fältchen um seine Augenwinkel und seine Zähne hoben sich blendend weiß gegen den dunklen Farbton seiner Haut ab. »Aber wenn ich dir einen Ratschlag geben darf, Alterchen ...«

Chatte schien sich zu versteifen. »Was?«

»Der Handel, den du eingehen willst, ...« Kyano ließ seinen Blick durch den überfüllten Gastraum wandern. »... der wird sich für dich nicht lohnen.«

Am Nachbartisch wurde eine Runde Bier ausgegeben. Männer lachten und grölten, Krüge wurden aneinander geschlagen und anschließend auf die Tischplatte geknallt, sodass die schaumige Flüssigkeit über den Rand spritzte.

»Woher weißt du davon?«

»Ich weiß von gar nichts, aber ich kann mir denken, was du vorhast.« Kyanos Brustkorb hob und senkte sich, aber kein Seufzer kam über seine Lippen. »Viele Niederlinge würden ihren halben Arm für ein paar Tropfen Albenblut geben, aber sie sind ein betrügerisches Volk.«

Ich erschauderte bei der Vorstellung, auch wenn ich nicht glaubte, dass meine Entführung etwas mit dem Geschmack meines Blutes zu tun hatte. Andererseits ... vielleicht schmeckte das Blut einer Albenkönigin noch besser als das Blut eines normalen Alben. Da ich jedoch nicht reinblütig war, würde der Niederling, der das Kopfgeld auf mich ausgesetzt hatte, vermutlich eine im wahrsten Sinne des Wortes herbe Enttäuschung erleben.

Chatte schnaubte. »Und wenn schon. Hauptsache, ich bekomme, was mir zusteht.«

»Schonmal darüber nachgedacht, warum du in dieser Gestalt steckst?«, erwiderte Kyano.

»Ich denke an nichts anderes«, knurrte Chatte. Die Kapuze war ihm ein Stück vom Kopf gerutscht, sodass ich seine Schnurrhaare vibrieren sehen konnte. »Das Ganze war ein abgekartetes Spiel. Mein Onkel steckt dahinter, jede Wette.«

Kyano zog eine Augenbraue hoch. »Du meinst, der ehemalige Sandalkhan von Sundara?«

»Ja«, grollte Chatte. »Er musste mich aus dem Weg räumen, um den Dreispits zu erlangen, und das ist ihm ja auch gelungen.« Seine Stimme zitterte vor Zorn. »Und jetzt ist seine Missgeburt von einem Sohn an der Macht.«

»Du warst als Mensch auch nicht unbedingt eine Schönheit«, gab Kyano zu bedenken. »So gesehen, ist dein aktueller Zustand eine Verbesserung an allen Fronten.« Er legte den Kopf schief. »Eigentlich finde ich dich jetzt sogar ganz niedlich.«

Chatte schien einen kleinen Satz in die Höhe zu machen. Als würde ihm ein Glühwürmchen im Hintern stecken. »Niedlich?!«

»Das sag ich ihm auch immer«, mischte sich Ayk ein, während er eine Flasche mit Zuckersirup vor mir abstellte. »Wenn er sich einfach damit abfinden würde, könnte er ein gemütliches Leben vor irgendeinem Ofen führen.«

»Ich will aber keinen Ofen!«, fauchte Chatte. »Ich will meinen Körper zurück!«

Er hatte so laut gesprochen, dass die Männer und Frauen an den umstehenden Tischen innehielten und sich nach uns umdrehten.

Ich nutzte den peinlichen Moment, klemmte mir die Sirupflasche zwischen die Knie und drehte mit beiden Händen den Deckel ab. Dann setzte ich sie umständlich an die Lippen. Wegen meiner gefesselten Handgelenke wäre sie mir beinahe entglitten, aber Ayk reagierte blitzschnell, fasste die Flasche und hielt sie so, dass ich daraus trinken konnte. Nach dem trockenen Brot vom Vormittag schmeckte sogar der billigste Zuckersirup wie ein göttliches Geschenk.

»Wie auch immer«, schnurrte Chatte in einem ruhigeren Tonfall. »In ein paar Tagen bin ich wieder hier und bringe dir das Geld.«

Kyano nickte. »Und ich werde alles wie besprochen veranlassen.«

Ich drehte den Kopf weg und Ayk setzte die Flasche ab. Dann nahm er neben mir Platz und nippte an dem Bier, das er für sich selbst mitgebracht hatte.

Noch etwas benommen von der Wirkung des Zuckers und von dem Gefühl, endlich wieder etwas Anständiges im Magen zu haben, sank ich gegen die Rückenlehne der Holzbank. Die Geräusche um mich herum verschwammen zu einem monotonen Rauschen, das dem stetigen Prasseln eines Kaminfeuers glich. Mein Bewusstsein machte sich selbstständig, flog durch Zeit und Raum und landete schließlich im Pittapott. Ich roch den vertrauten Duft der Trompetenwinden, die Bruin dort angepflanzt hatte, und glaubte, meine Freundin lachen zu hören. Bestimmt hatte Ludvik mal wieder irgendeinen Niederling-Witz gemacht, den ich nicht verstehen konnte.

»Bis dahin seid ihr meine Gäste«, hörte ich Kyano sagen. »Also lasst es euch gut gehen.«

»Das ist sehr großzügig«, erwiderte Chatte steif.

Ich blinzelte meine Erinnerungen an den Pittapott weg und bemerkte, dass Kyanos Blick erneut direkt auf mich gerichtet war, als würde er sich fragen, ob er sich auch tatsächlich nicht geirrt hatte. Vielleicht entsprach ich nicht seinen Erwartungen. Nun, da konnte er sich mit den restlichen Alben in meinem Leben zusammentun.

ALBENBLUTTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon