Feuerwerk (9|7)

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Der Himmel über der Bruchstätte war sternenklar und der Mond spendete einen betörenden Silberglanz, der die Oberlande durchdrang und sie wie wabernde Nebelgebilde aussehen ließ.

Ich erinnerte mich daran, wie ich an der Universität zum ersten Mal von der großen, alles bedeutenden Frage gehört hatte: Hatten die Oberlande beim Großen Sturz ihre Körperlichkeit verloren, wie oben am Himmel, oder stattdessen an Körperlichkeit gewonnen, wie hier unten an der Bruchstätte? Oder war eine Mischung aus beidem der Fall?

Professor Balinn und viele andere glaubten, die Oberlande müssten ursprünglich körperlich gewesen sein, da unsere Artefakt-Funde darauf hindeuteten und Nicht-körperliches kein Leben hervorbringen könnte. Das bedeutete, auch wir Alben müssten von unserer Natur her körperliche Wesen sein, wenn auch vielleicht auf andere Art und Weise als die Menschen.

Ich wusste nicht, ob ich das glauben konnte oder ob ich lieber glauben wollte, dass wir alle nur Geister waren, die bis zum Großen Sturz in einer Welt aus Wolken und Schatten gelebt hatten.

Vielleicht ging es dem Professor ähnlich. Vielleicht wollte er bloß glauben, dass die Oberlande einst körperlich gewesen waren, denn das hätte uns die Möglichkeit eröffnet, irgendwann dorthin zurückzukehren – in den Teil, der nicht durch die Sphärengrenze gestürzt war. Sofern ein solcher Ort existierte. Wenn, dann wussten es nur die Vögel und die Vindr. Und keines der beiden Völker hatte je Anstalten gemacht, darüber zu sprechen.

»Prinzessin Alionora vom Haus Lupercalian ...«, raunte Kyano, während wir beide aus dem Fenster blickten und den Raketen zusahen, die heulend in den sternengesprenkelten Himmel hinaufstiegen, wie Fallfeuer, bloß umgekehrt. Bei jedem Knall durchzuckte mich ein starker Fluchtimpuls, aber ich ließ es mir nicht anmerken. »... was für eine Überraschung, Euch hier zu treffen.«

»Du erinnerst dich also an mich«, erwiderte ich, den Blick fest auf das explodierende Farbenspiel am Himmel gerichtet. Vermutlich irgendeine chemische Spielerei. Bruin hätte es mir sicher erklären können. Im Gegensatz zu mir verstand sie viel von den Naturwissenschaften.

Kyano legte den Kopf schief. »Erinnern?«

»Damals.« Ich senkte die Stimme zu einem Flüstern. »In Albenheim.«

Aus dem Augenwinkel nahm ich ein Zucken in Kyanos Gesicht wahr. »Stimmt«, murmelte er. »Das war Eure Verlobung, nicht wahr?«

Es irritierte mich, dass er sich nicht an mich erinnerte. Aber andererseits ... wieso auch? Wieso hätte er mich unter den vielen anderen Alben wahrnehmen sollen? Noch dazu in seinem Zustand. Soweit ich mich erinnerte, hatte er nur Augen für Eldastin gehabt.

»Ja, es war meine Verlobung«, sagte ich. »Und deine Hinrichtung. Nur ...« Ich wandte den Kopf, um ihn anzusehen. »... warum bist du nicht tot?«

Kyano seufzte leise. Genau wie alle anderen Alben verströmte er keinen Geruch und keine Körperwärme. Obwohl wir uns so nahe waren, fühlte es sich an, als würde ich mit einer Statue sprechen. »Das ist eine lange Geschichte und ich weiß nicht, ob Ihr schon bereit dafür seid.«

»Bereit? Wofür?«

Jetzt wandte auch Kyano den Kopf, sodass unsere Blicke aufeinandertrafen. In seinen Augen las ich eine Mischung aus Spott, Ärger und Neugier. Er schien mich trotz seiner ausgesuchten Höflichkeit nicht ernst zu nehmen. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm das verdenken konnte. Die Rolle der Königin passte nicht zu mir. Sie war wie ein schlechtsitzendes Abendkleid. Ständig verspürte ich den Drang, daran herumzuzupfen, und mit Sicherheit würde ich erleichtert aufatmen, wenn ich mich ausziehen und in etwas Bequemeres schlüpfen könnte.

»Das kommt ganz darauf an«, antwortete Kyano leise.

»Auf was?«

Das flackernde Licht der verglühenden Farbenspiele tauchte Kyanos linke Gesichtshälfte in changierende Blau- und Rottöne. »Auf die Art Königin, die Ihr sein wollt.«

Mein Herz schlug höher. Ich verstand nicht, was er mir sagen wollte, aber ich spürte, dass es wichtig war.

»Alles hängt davon ab, ob Ihr die Tochter Eures Vaters sein wollt«, fuhr Kyano kaum hörbar fort.

»Ich bin die Tochter meines Vaters«, entgegnete ich scharf. »Aber das bedeutet nicht, dass ich alle seine Entscheidungen gutheißen würde.« Das Pochen in meinem Hals wurde stärker. Hitze stieg mir ins Gesicht. »Sind du und diese Rebellion, von der mein Vater damals gesprochen hat, für den Anschlag auf meine Familie verantwortlich?«

Kyano wandte sich wieder der Aussicht zu. »Ihr redet von Dingen, von denen Ihr ganz offensichtlich keine Ahnung habt.«

»Dann erklär es mir«, fuhr ich ihn an.

Als mir bewusst wurde, wie laut ich gesprochen hatte, sah ich mich nach Chatte um, doch mein Entführer kämpfte noch immer mit seiner Menschenkleidung und schien unserem Gespräch keine Beachtung zu schenken.

»Dann sag mir, was damals geschehen ist«, drängte ich Kyano mit gesenkter Stimme. »Woher kennst du Eldastin? Wieso wollte mein Vater, dass er über dein Leben richtet – und das am Tag unserer Verlobung?« Ich atmete gepresst aus. »Wer ... in Handbeißers Namen ... bist du?«

Kyano schwieg eine Weile, sodass nur das Knallen der Raketen und die Protestrufe der Lotrechten zu hören waren. Ihre Schreie waren in den vergangenen Sekunden lauter und schriller geworden, aber ich hörte nicht hin.

»Rebellion«, brummte Kyano schließlich mit einem abschätzigen Zungeschnalzen. »So nennt ihr es also.«

Ich blinzelte beim Versuch, mich an den genauen Wortlaut meines Vaters zu erinnern, doch vergeblich. »Wenn es keine Rebellion ist, was ist es dann?«

»Ihr seid genauso ignorant wie Euer Bruder.«

»Nevellin?« Ich hätte beinahe laut aufgelacht. Kyano war vermutlich der Erste, der irgendeine Ähnlichkeit zwischen uns entdeckte. »Denkst du das wirklich?«

»Manche hoffen, dass Ihr anders wärt, weil Ihr Albenheim verlassen und unter Menschen gelebt habt.«

»Anders? In Bezug worauf?«

Kyano schielte zu mir. Seine Augen schimmerten im Widerschein des Feuerwerks wie Saphire. »Eldastin denkt, Ihr könntet die Alben vereinen.«

»Die Alben vereinen?«, wiederholte ich verwirrt.

»Und manche von uns sind bereit, ihm zu glauben. Aus diesem Grund seid Ihr wohl noch am Leben.« Kyanos Augen verengten sich. »Aber ich weiß nicht, ob Ihr das wirklich könnt. Ich denke, Ihr seid nur eine selbstgerechte Sturmalbin, wie der Rest Eurer Familie.« Kopfschüttelnd und mit dunkler, vor Verachtung triefender Stimme ergänzte er: »Ihr Sturmalben haltet euch für etwas Besonderes. Für wertvoller als alle anderen Alben. Deshalb habt Ihr uns auch im Stich gelassen.«

Darauf wusste ich nichts zu sagen. Ich war buchstäblich sprachlos. Zum einen, weil es das erste Mal war, dass ich mit meiner Familie über einen Kamm geschoren wurde und es keine Rolle spielte, dass ich ein Halbling war. Zum anderen, weil ich keine Ahnung hatte, was Kyano mit die Alben vereinen gemeint haben könnte.

Und Eldastin? Welche Rolle spielte er in dieser ganzen Angelegenheit? Ich konnte mir höchstens vorstellen, dass es irgendwie mit Prinzessin Skarabelle zu tun hatte. Oder mit Kwylla.

Hatten der Anschlag auf die Wasseralben und die Untätigkeit meines Vaters letztendlich zu seinem Untergang geführt?

Gerade als ich den Mund öffnete, um Kyano danach zu fragen, flog etwas durch das Fenster. Das Glas splitterte und Scherben spritzten in alle Richtungen. Etwas streifte meine Wange und ich riss die Hände hoch, um mein Gesicht zu schützen. Gleichzeitig drehte ich mich zur Seite und kauerte mich auf der Sitzbank zusammen. Die Scherben prasselten auf mich herab und landeten scheppernd auf dem Dielenboden.

Von draußen drang lautes, triumphierendes Geschrei herein, gefolgt von derben Beschimpfungen.

Ich wollte mich wieder aufrichten, aber Kyano drückte mich zurück. »Unten bleiben.«

»Was war das?«, zischte Chatte.

»Ein Stein«, antwortete Kyano.

Ich verrenkte mir den Hals, um einen Blick aus dem zerbrochenen Fenster werfen zu können. Leider konnte ich nicht viel erkennen. Nur flackernde Lichter, Dampfschwaden und die schattenhaften Umrisse der Menschen, die sich in zwei Lagern gegenüberzustehen schienen.


ALBENBLUTWhere stories live. Discover now