Damals und heute (3|9)

97 30 13
                                    

Der Generalin gelang es nur dank ihrer übermenschlichen Reflexe, die Attacke abzuwehren.

Eldastins Maribel prallte mit einem metallischen Klirren an ihrer Waffe ab, wurde ein paar Meter davongeschleudert, kehrte um und kam pfeilschnell wieder zurück.

Diesmal konnte Zarola sich nur mit einem Sprung in Sicherheit bringen. 

Auch Ludvik musste sich ducken, um der Maribel zu entgehen.

»Ganz wie Ihr wollt, Aurelian«, zischte die Generalin, schlug kräftig mit den Flügeln und katapultierte sich – Schwert voran – in Eldastins Richtung.

Eldastin nutzte seine Kontrolle über den Wind, um sich außer Reichweite zu bringen. Dabei bewegte er sich mit der grazilen Leichtigkeit, die den meisten Alben zu eigen war. Es sah fast so aus als würde er auf den Luftströmungen tanzen. Als Kind hatte ich die reinblütigen Alben um diese Fähigkeit beneidet. Wenn ich ehrlich war, beneidete ich sie auch heute noch darum.

Zarola setzte Eldastin nach. Dabei schien sie selbst die Winde zu ihrem Vorteil zu nutzen. Wie ein Adler glitt sie durch die Luft und ihre blutgetränkten Schwingen verursachten ein Geräusch wie ein Großsegel im Sturm. 

Eldastin ließ sie nahe an sich herankommen und wich ihrem Angriff im letzten Moment aus. 

Wie ein Seidentuch glitt er unter ihrem Schwertstreich hindurch und machte der Maribel Platz, die in seinem Schatten gelauert hatte. Wie ein hungriges Tier stürzte sich die Kugel auf Generalin Zarola und überzog sie mit einem regelrechten Angriffsstakkato. 

Zarola blockte sie erst mit der Breitseite ihrer Waffe, dann mit ihrem eisernen Handschutz. Als die Maribel jedes Mal wieder zu ihr zurückkehrte, schien der Vindr-Generalin der Geduldsfaden zu reißen. Sie holte aus und schmetterte die Kugel mit einem donnernden Schwertstreich in eine angrenzende Hauswand. Die Maribel durchschlug die äußeren Steinschichten und blieb irgendwo im Innern der Mauer stecken. 

Noch ehe Eldastin sie befreien konnte, stürzte sich die Generalin erneut auf ihn. Er entging ihrem Angriff nur um Haaresbreite. Schlag auf Schlag kamen Zarolas Attacken und Eldastin musste sein ganzes Talent aufwenden, um ihr immer einen Schritt – oder vielmehr: eine Windböe – voraus zu sein. Dabei musste er nicht nur auf ihr Schwert achten, sondern auch auf ihre Schwingen, deren Federsaum scharfkantig wie eine Sense durch die Luft schnitt.

Nachdem sie sich eine Weile durch die Gasse gejagt hatten, änderte Zarola jedoch plötzlich ihre Taktik und raste auf mich zu.

Für einen winzigen Augenblick fühlte ich mich wieder wie gelähmt, doch der Moment verging schnell. Ich fuhr herum und rannte los. Unter normalen Umständen hätte ich keine Chance gehabt, vor ihr davonzurennen, aber dann kam der Wind und katapultierte mich in die Luft.

Ich verlor den Boden unter den Füßen und wurde in den Himmel hinaufgetragen, rasend schnell, hoch und immer höher.

In einem unwillkürlichen Anflug von Panik kämpfte ich dagegen an, ruderte mit den Armen und strampelte mit den Beinen. Auf keinen Fall wollte ich Eldastin derart die Kontrolle über mich überlassen. Mit einer brennenden Wut im Bauch stemmte ich mich gegen den Wind, aber ich hatte keine Chance. Mein federleichter Körper wurde zum Spielball von Eldastins Talent und mir blieb nichts anderes übrig, als die Augen zu schließen und ihn gewähren zu lassen. 

Ich hörte und spürte, dass Zarola dicht hinter mir war. Doch die Winde waren ihr immer einen winzigen Schritt voraus.

Derweil wurde unter uns Lärm laut. Das Surren von Bogen- und Armbrustsehnen mischte sich unter das Rauschen von Zarolas Schwingen.

Mein Körper wurde erneut beschleunigt und sackte schließlich ruckartig in die Tiefe, bis ich wieder festen Boden unter meinen Füßen spüren konnte. Ich öffnete die Augen und erkannte, dass ich auf einem Hausdach gelandet war. Unter mir lag die Straße, auf der Zarola und Ludvik gekämpft hatten. Inzwischen waren weitere Drachenkrieger eingetroffen, bewaffnet mit allen Arten von Schusswaffen – bis hin zu großen Ballisten, die armlange Bolzen verschießen konnten. Sie feuerten auf Zarola, sodass sie abdrehen und ihr Heil in der Flucht suchen musste.

Erleichtert ließ ich mich auf die glasierten Dachziegel sinken und lehnte mich mit der Schulter an den Schlot eines Schornsteins, der sich angenehm warm anfühlte. 

Mein Körper schien zu zerfließen als bestünde ich aus Wachs. Die Erschöpfung zog an meinem Bewusstsein wie ein Steinklotz an einem Ertrinkenden. Ich wollte ihr gerne nachgeben, aber ich fürchtete, dass die Vindr zurückkehren würden, wenn ich nur kurz unaufmerksam wäre.

»Alina?«

Benommen bekam ich mit, wie Eldastin neben mir landete. Seine Svila umflatterte ihn hoheitlich.

»Bist du verwundet?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Gut.« Eldastin streckte mir die Hand hin. »Dann lass uns gehen. Es ist noch ein weiter Weg bis nach Albenheim.«

»Und wenn ich nicht nach Albenheim gehen will?«, nuschelte ich.

Eldastin sah auf mich herab. »Ich sagte es doch schon: Du hast keine Wahl. Unsere Feinde werden dich finden, ganz egal, wo du dich auch versteckst. Und bis sie dich gefunden haben, werden sie ein Blutbad nach dem anderen anrichten.«

Es schmerzte, das zugeben zu müssen, aber Eldastin hatte Recht. Je länger ich das Unvermeidliche hinauszögerte, desto mehr Menschen brachte ich in Gefahr. Die einzige Alternative war der Tod. Es mochte selbstsüchtig sein, aber ich wollte noch nicht sterben. Ich wollte leben.

»Was du Generalin Zarola gesagt hast ...«, murmelte ich. »War das die Wahrheit?«

»Was meinst du?«, fragte Eldastin.

Der Wind spielte mit seinen Haaren und verlieh seiner Erscheinung eine andersweltliche Eleganz. In diesem Moment glich er den alten Götterstatuen der Sandalusier, den Lyren, mit ihrer aufrechten Haltung und ihren hübschen, aber unnahbaren Gesichtern.

»Dass du für mich da sein wirst, wenn ich dich brauche.«

Eldastin zögerte kurz, dann ließ er sich neben mir auf ein Knie herabsinken, wie ein Edelmann, der zum Ritter geschlagen werden sollte. »Alina ... ich habe verstanden, dass ich dich damals mit meinem Verhalten gekränkt habe und ich bedauere diesen Umstand sehr. Doch unsere Situation ist jetzt eine andere. Du bist die zukünftige Königin von Albenheim. Daher ist es meine Pflicht, dir zur Seite zu stehen und dich zu beschützen. Mit meinem Leben, wenn es so sein sollte.«

»Du hättest mich damals beschützen sollen«, gab ich zurück.

»Und vor welcher Gefahr?«

Eldastin wirkte ernsthaft verwundert. 

Vermutlich konnte er sich nicht einmal im Traum vorstellen, wie weh es getan hatte, sich die ganze Kindheit über ungeliebt und unerwünscht zu fühlen. Wie es war, täglich den Spiegel vorgehalten zu bekommen und erkennen zu müssen, dass man nicht schön, anmutig oder begabt genug war, um mit den reinblütigen Alben mitzuhalten. Selbst wenn mir dort keine greifbare Gefahr gedroht hatte, war jeder Tag in Albenheim für mich eine Qual gewesen – und Eldastins abweisende Art hatte der ganzen Angelegenheit die Krone aufgesetzt. 

Aber vielleicht war ich auch einfach nur zu menschlich. Ein fühlendes Wesen in einem Haufen kalter Steine. Genau wie heute hatte ich damals nur die Wahl zwischen zwei Alternativen gesehen: Fliehen oder qualvoll zugrunde gehen. Und so wie es aussah, würde ich mich erneut für die Flucht entscheiden.

»Ich hoffe, du kannst dein Versprechen halten«, sagte ich zu Eldastin und ergänzte in einem dumpfen Tonfall: »Auch wenn es für dich nur eine leidige Pflicht ist.«

Eldastin schien innerlich zu seufzen, ließ die ausgestreckte Hand sinken und richtete sich wieder auf. »Meiner Königin zu dienen, ist keine leidige Pflicht für mich. Dessen kannst du dir versichert sein.«

Ich war zu müde, um darauf etwas zu erwidern. Die Erschöpfung zog immer stärker an mir und ich hatte keine andere Wahl als ihr zu folgen. Die Welt um mich herum wurde schattiger. Die Geräusche verschwammen zu einem undefinierbaren Raunen und Murmeln. Ich konnte die Augen nicht mehr offen halten. Kaum hatten sich meine Lider geschlossen, wurde mein Geist in warme Watte gepackt und driftete wie eine Schönwetterwolke am Himmel davon.


ALBENBLUTWhere stories live. Discover now