Einkaufsbummel (6|5)

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Dutzende von Menschen waren gekommen, um uns zu begrüßen. Einige von ihnen brachten Kleidung und Essen, sogar Spielzeug für die Kinder, die es aus Gronholt hierher geschafft hatten. Anscheinend hatte sich die Nachricht vom Angriff der Vindr bereits bis in die Holzlanden herumgesprochen.

Auch eine Delegation Lotrechter hatte sich am Gleis versammelt. Sie trugen Plakate und Transparente, die ihre Absichten – eine schnelle und planmäßige Vernichtung aller Anderlinge – deutlich machten. Der Lotrechte, der mit uns gekommen war, wurde von seinen Brüdern im Geiste frenetisch jubelnd in Empfang genommen. Fast als wäre er ein Kriegsheld. Bei dem Anblick sank mir das Herz in die Magengrube. Eilig vergewisserte ich mich, dass meine Mütze richtig saß. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte, denn Eldastin zog mit seinem albischen Aussehen alle Aufmerksamkeit auf sich.

»Das ist nicht gut«, murmelte Bruin, während wir uns durch die Menge bewegten und von allen Seiten misstrauisch und teilweise sogar regelrecht hasserfüllt gemustert wurden. Hoffentlich war die Information, dass die Vindr nach einer Albenfrau gesucht hatten, noch nicht bis nach Twisdal durchgedrungen. Andernfalls würden wir vermutlich schon sehr bald ernstere Probleme bekommen. Mein Blick wanderte zu einigen Ordnungshütern in den für die Holzlanden üblichen waldgrünen Waffenröcken, die das Geschehen vorerst noch tatenlos beobachteten.

»Kommt«, sagte Bruin, packte mich und Eldastin an den Armen und schob uns vom Bahnsteig eine kleine Treppe hinauf, die auf eine Art Promenade entlang der Gleise führte.

Die Straßen in Twisdal waren nicht gepflastert, sondern bestanden aus Holzbalken, wie die Pfade, die wir an der Bruchstätte angelegt hatten. Auch die Häuser der Stadt bestanden aus Holz. Allerdings waren sie von deutlich feinerer Bauart als die Gebäude in Gronholt. Mit ihren geschwungenen Formen und aufwendigen Schnitzereien schienen sie teilweise mit dem Dickicht zu verschmelzen. Auf den Dächern, die mit dunklen Holzschindeln gedeckt waren, wuchsen Moose, Farne und niedrige Sträucher. An einem der Häuser entdeckte ich sogar Weinreben mit schweren, dunklen Trauben. Die Vorstellung, die Früchte am Morgen vor der Arbeit direkt von der Dachkante pflücken zu können, gefiel mir, auch wenn ich Trauben allerhöchstens in Form von entsprechend zubereitetem Zuckersirup zu mir nahm.

Beeindruckender noch als die Häuser waren aber die Bäume, die ein meterhohes Spalier entlang der Gleise bildeten. Ihr herbstlich eingefärbtes Blätterkleid war ausgedünnt und ihre Rinde stellenweise schwarzfleckig und pockennarbig. Spuren, die Dampf, Rauch und Ruß ins Fleisch der Bäume gebrannt hatten. Obwohl die Holzmannen regelmäßig alle Äste und Zweige an der Strecke abschlugen und das trockene Gehölz zurückschnitten, kam es in der Nähe der Gleise noch immer häufig zu kleineren oder größeren Waldbränden.

»Hier lang.«

Bruin schob uns durch einen Torbogen, der aus ineinander verschlungenen Wurzeln bestand. Dahinter begann eine breite Allee, die neben den für diese Gegend typischen Baumriesen von kleineren, laternenförmigen Bäumchen gesäumt wurde. Treppen führten an den Stämmen hinauf zu freischwebenden Laubengängen, die der Stadt eine zweite Ebene verliehen. Die Gebäude dort oben hingen wie Wespennester unter Astgabelungen oder waren wie Spechthöhlen ins Holz der Bäume getrieben worden.

Zu beiden Seiten der Allee befanden sich Geschäfte. Twisdal war nur eine kleine Stadt, aber es gab eine imponierende Auswahl an Läden, von Filialen großer Handelsgesellschaften, über Apotheken, Schneidereien, Bäckereien, Metzgereien, verschiedene Stoff- und Edelmetallmanufakturen, Färbereien, Druckereien, Seifen- und Zuckersiedereien.

Die schwülwarme Luft war von einem intensiven Duft nach Erde, Baumharz, Kräutern und Gebackenem erfüllt. Letzterer stammte vermutlich von einem Marktstand, an dem löffelförmige, in Honig getränkte Küchlein angeboten wurden.

»So geht das nicht«, sagte Bruin, als wir auch hier von allen Seiten komisch beäugt wurden. »Du brauchst eine Verkleidung, Eldastin.«

Eldastin versteifte sich.

»Keine Widerworte«, schob Bruin hinterher. »Du fällst auf wie ein bunter Hund, auch wenn du – genau genommen – das Gegenteil eines bunten Hundes bist.«

»Außerhalb Albenheims hat die Svila Tradition«, protestierte Eldastin.

»Ja. Und weißt du, was noch Tradition hat? Wütende Menschen, die vermeintlichen Feinden die Köpfe einschlagen.«

Daraufhin schwieg Eldastin beleidigt. Seine Miene war so verschlossen wie ich es von ihm gewohnt war, doch inzwischen fiel es mir leichter, die winzigen, kaum merklichen Regungen in seinem Gesicht oder in seiner Körperhaltung zu deuten.

»Da vorne.« Bruin zeigte auf eine Filiale der Komerse, einer Fermarkischen Handelsgesellschaft, und tätschelte Eldastins Schulter. »Wir kleiden dich ganz neu ein. Wenn wir mit dir fertig sind, bist du ein neuer Mann.«

»Was ist verkehrt an dem Mann, der ich bin?«

Bruin seufzte theatralisch. »Wo soll ich da bloß anfangen?«

Noch immer etwas erschlagen von den vielen neuen Eindrücken, folgte ich Bruin und Eldastin zu dem Laden, der mit den Symbolen der Komerse – Sonne und Spinnrad – geschmückt war und vor allem Stoffwaren aus dem Umland von Albrück, aber auch Erzeugnisse aus Freymold, Lyrien, Gronholt und Dusen anzubieten hatte.

Ich überließ es Bruin, Eldastin einzukleiden, und wanderte stattdessen ziellos durch die schlauchförmigen Gänge, die bis unter die Decke mit allen Arten von Jacken, Mänteln und Kleidern vollgestopft waren. Wie Bücher in einer Bibliothek reihten sich die Stoffwaren links und rechts von mir in tiefen Schrankfächern und an langen Eisenstangen auf. Es roch muffig, nach gegerbtem Leder und verstaubten Tierfellen. Ab und zu weckte ein Kleidungsstück mein Interesse und ich zog es heraus, um es genauer zu betrachten.

Im Gegensatz zu Bruin hatte ich einen eher zurückhaltenden Kleidungsstil. Ich mochte einfache Hosen, Blusen und Westen, mit denen ich im Büro arbeiten und an der Bruchstätte herumklettern konnte, ohne mir Sorgen um Dreck oder unfreiwillige Entblößungen machen zu müssen. Außerdem besaß ich die albentypische Vorliebe für klare Farben und Schnitte. Bunter Firlefanz war in Albenheim – jedenfalls bei den Frauen – verpönt und auch bei den Männern nur im Rahmen klar definierter Regeln und zu speziellen Anlässen gerne gesehen. Trotzdem fand ich zwischen den Kleidern eine mit roten Mohnblüten bestickte, dunkelblaue Samtweste, die mir auf Anhieb gefiel. Ich zog sie heraus und trat damit vor einen der in regelmäßigen Abständen aufgestellten Spiegel.

»Jetzt stell dich nicht so an«, konnte ich Bruin im Hintergrund schimpfen hören. »Nein, das sieht nicht albern aus. Ach, und wenn schon. Du willst dir ja nicht die Haare abschneiden!«

Ich schmunzelte. Wie die meisten Alben wäre Eldastin vermutlich lieber gestorben, als sich die Haare abzuschneiden. Meine eigenen Haare reichten mir derzeit etwa bis zur Schulter, aber ich hatte keine Skrupel, sie bei Bedarf zu kürzen. Nachdenklich hielt ich mir die Weste vor die Brust und überlegte, ob ich zuschlagen sollte. Nach dem ganzen Stress der vergangenen Tage konnte ich eine kleine Aufmunterung vertragen – und die Weste war wirklich hübsch und gut gearbeitet.

Während ich noch darüber nachdachte, nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Instinktiv wandte ich den Kopf und bemerkte eine ominöse Gestalt, die draußen vor dem Schaufenster stand und ins Innere des Ladens starrte. Oder zumindest glaubte ich das. Die Gestalt trug eine bodenlange Kutte mit Kapuze, die ihr Gesicht verbarg, sodass ich ihre Augen nicht erkennen konnte. Sie war jedoch ungewöhnlich klein, gerade so groß wie ein Schulkind, weshalb sie nicht besonders bedrohlich wirkte.

»Alina!«, rief Bruin durch den Laden. »Komm mal her! Ich brauche deine Hilfe. Dein Verlobter ist die größte Diva, die mir je untergekommen ist.«

»Ja, ich-« Ich hängte die Weste zurück an die Kleiderstange. Als ich wieder aufsah, war die Gestalt vor dem Fenster verschwunden. »-komme ...«, beendete ich meinen Satz im Flüsterton.


ALBENBLUTWhere stories live. Discover now