Enferno (9|8)

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»Was machen die da?«, wollte ich wissen.

»Sieht aus, als würden sie sich anschreien und mit Steinen bewerfen«, antwortete Kyano, schürzte die Lippen und ergänzte grimmig: »Mit anderen Worten: Gute, altmodische Politik.«

»Hat das was mit den Lotrechten zu tun?«

»Bestimmt.« Kyano schnaubte abfällig. »Diese Verrückten werden immer dreister ...«

»Also meiner Meinung nach haben sie nicht vollkommen unrecht«, bemerkte Chatte, während er geduckt zu uns huschte und dabei mehr Geschmeidigkeit an den Tag legte als die meisten gewöhnlichen Menschen. »Der Große Sturz hat nicht viel Gutes über uns gebracht.«

»Redet Ihr von Eurem Artefakt-Malheur?«, wandte ich ein und wischte mir etwas Blut von der Wange. Anscheinend war ich von einer Scherbe getroffen worden. »Weil das habt Ihr Euch selbst zuzuschreiben.«

»Ich sagte doch schon, mein Onkel steckt dahinter«, fauchte Chatte. »Er wollte mich aus dem Weg räumen.«

Kyanos Augen funkelten amüsiert. »Was war es? Ein Fruchtbarkeitsartefakt?«

»Nein!« Chattes Stimme wurde so hoch und schrill, dass sie brach. Er hustete verkrampft. »Natürlich nicht. Das ... das wäre ja ... lächerlich.«

Ich versuchte mich an mein Wissen über Niederling-Artefakte zu erinnern. Das war zwar nicht mein Fachgebiet, aber das eine oder andere hatte ich im Laufe meiner Karriere und aufgrund meiner Freundschaft mit Ludvik und Bruin aufschnappen können. Genau wie Kyano hatte ich zunächst ein Fruchtbarkeitsartefakt als Grund für Chattes Problem vermutet, denn diese Artefakte waren in den Menschenlanden weit verbreitet, aber die Art seiner Verwandlung deutete eher auf eine andere Ursache hin. »Vielleicht war es ein Nacktlure-Artefakt.«

»Das klingt versaut«, bemerkte Kyano, während er vorsichtig aus dem Fenster spähte. »Ich bin interessiert. Was ist das?«

»Es war nichts Versautes!«, keifte Chatte. Dabei bewegte er den Kopf so ruckartig, dass ihm die Kapuze von den Ohren rutschte. Darunter kam das Gesicht einer Katze zum Vorschein. Blauschwarzes Fell mit einer rosa Nase, bebenden Schnurrhaaren, schräg stehenden, goldgelben Augen und einem grimmigen Mund.

Chatte gab einen leisen Schreckensschrei von sich, fluchte in einer fremden Sprache – vermutlich Sandalusisch – und wollte sich die Kapuze wieder über den Kopf ziehen, was wegen seiner Pfoten und der abstehenden Ohren gar nicht so leicht war. Zeternd wie ein altes Großväterchen, das seine Brille nicht finden konnte, zerrte er an seiner Kleidung.

»Tatsächlich ist das nichts Versautes«, erklärte ich Kyano. »Nackt ist ein altmannisches Wort für Nacht. Nacktlure-Artefakte verhelfen ihrem Besitzer zu guter Sicht in vollständiger Dunkelheit. Außerdem sind sie langisch. Das heißt, man legt sie sich unter die Zunge, damit sie ihre Wirkung entfalten. So etwas gibt es auch bei Oberling-Artefakten. Fragt mich bitte, wie sie das herausgefunden haben. Die Geschichte ist-«

Ich brach ab.

Lauf, Alina ...

Das Flüstern des Windes war nicht mehr als ein Hauch, der sich rasch zu einer Böe steigerte, die das gesplitterte Glas wie Sandkörner herumschob.

Lauf, Alina.

Sie kommen, Alina.

Ich fröstelte.

»Verdammt«, knurrte Kyano.

»Was ist?«, fragte Chatte.

Kyano wedelte mit einer Hand vor meinen Augen herum. »Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Der Wind spricht zu ihr. Und ihrer Miene nach zu schließen, sagt er nichts Gutes.«

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