Eine Frage der Tarnung (9|1)

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Ich erwachte mit Kopfschmerzen und einem knurrenden Magen. Und mit der unangenehmen Gewissheit, dass ich vieles aus meiner Vergangenheit verdrängt hatte.

Kyano ... ich erinnerte mich an ihn. Ich erinnerte mich daran, was Eldastin ihm angetan hatte. Jedenfalls hatte ich das damals gedacht. Rückblickend betrachtet, war ich mir nicht mehr sicher, ob er tatsächlich eine freie Wahl gehabt hatte. Die ganze Zeremonie erschien mir inzwischen mehr als nur kurios. Wer zelebrierte schon eine Verlobung mit anschließender Hinrichtung? Dazu noch Orianes seltsames Verhalten, das Blut an Eldastins Hals und die gute Laune meines Vaters ... ich war mir sicher, dass damals noch etwas Anderes vorgegangen war. Etwas, das ich als Kind nicht verstanden hatte und das ich auch jetzt nicht vollständig durchschauen konnte.

Vorsichtig setzte ich mich auf und rieb meine Schläfen. Wasseralben ... Prinzessin Skarabelle ... wie hatte ich vergessen können, was Nevellin bei unserer Verlobung zu Eldastin gesagt hatte? Anders als damals verstand ich seine Andeutung heute problemlos. Aber war es die Wahrheit? War Eldastin in Terebien gewesen? Hatte er mit Prinzessin Skarabelle ...? Ich wollte lieber nicht daran denken.

Um mich abzulenken, wandte ich mich dem Loch in der Plane zu und warf einen Blick hinaus. Der Karren mit meinem Käfig ruckelte eine unebene Straße hinunter. Von meiner Position aus konnte ich vereinzelte Ansammlungen von Bäumen und Sträuchern erkennen, die die Grenzen von Gemarkungen markieren mussten. Dazwischen goldgelbe Kornfelder und brach liegende Wiesen voller Wildblumen und Unkraut. Die Luft war von einem süßen Pollenduft erfüllt, aber der kühle Wind, der durch das Unterholz streifte, kündete vom nahenden Herbst. Um das zu spüren, musste man kein Alb sein.

Ich entdeckte Ayk, der neben dem Karren herging und auf dem Ende eines Grashalms herumkaute. Wie bei unseren bisherigen Begegnungen trug er die schon etwas ranzig aussehende Rüstung eines Drachenkriegers.

»Hey!«, rief ich ihm zu.

Ayk sah auf und lächelte. »Hey ... Zuckerfee.«

»Sag mal, woher hast du eigentlich die Rüstung?«, wollte ich wissen.

»Was ist denn das für eine Frage?«, gab Ayk zurück und rückte näher an den Karren heran. Die Ähre an der Spitze des Grashalms wippte bei jedem seiner Schritte munter auf und ab.

»Denkst du, ich kaufe dir ab, dass du ein Drachenkrieger bist?«

Ayk lachte. »Wieso nicht?« Er krempelte einen Ärmel hoch und präsentierte mir ein paar krakelige Tätowierungen, die nur wenig mit den symbolträchtigen und typischerweise sehr kunstfertigen Hautmalereien der Drachenkrieger zu tun hatten.

»Vergiss es«, erwiderte ich. »Ich erkenne einen Drachenkrieger, wenn ich ihn sehe. Und du bist keiner.«

Ayk ließ den Arm wieder sinken und blinzelte in das Licht der Morgensonne. »Es hat gereicht, um dich und deine Niederling-Freundin zu täuschen.«

Damit hatte er Recht. Im ersten Moment waren Bruin und ich auf seine Verkleidung hereingefallen.

»Und es reicht, um die allermeisten Menschen zu täuschen«, fuhr Ayk fort. »Das bedeutet, sie halten uns für die Guten und dich-« Er zeigte mit dem Finger auf mich. »-für einen hinterhältigen, kleinen Oberling.«

»Ist das unsere Tarnung?«

»Es funktioniert, verlass dich darauf. Du kannst betteln, solange du willst, aber niemand wird dir zu Hilfe kommen.« Ayks Miene verfinsterte sich. »Nicht, dass ich dir das empfehlen würde.«

»Wieso?«

»Wir befinden uns im Kohlgürtel«, antwortete Ayk achselzuckend. »Hier – in der Nähe des schwarzen Schlundes – sind die Lotrechten sehr aktiv. Will sagen: Sie haben in den letzten Jahren viele Anhänger gewonnen, vor allem in der ärmeren Bevölkerung. Das heißt, die Menschen haben keine besonders gute Meinung von Oberlingen.« Ayk streckte den Arm aus und klopfte gegen den Käfig. »Also sei froh, dass du da drin sitzt.«

»Was ist mit den Vindr?«, fragte ich.

»Was soll damit sein?«

»Sie sind hinter mir her. Was, wenn sie uns angreifen?«

Ayk warf mir einen zweifelnden Blick zu, als würde er sich fragen, was mit mir nicht stimmte. »Die Vindr wagen sich nicht so nahe an den Schwarzen Schlund.« Er zuckte mit den Schultern. »Dieser Ort erinnert sie vermutlich an einige furchtbare Niederlagen, wie zum Beispiel die legendäre Schlacht vom Kohlkopftal.«

»Die Schlacht vom Kohlkopftal?«, wiederholte ich ungläubig.

Ayk nickte. »So nennt man das hier. Damals haben die Vindr eine Niederling-Enklave in der Nähe von Malachit angegriffen und wurden mit brennenden Kohlköpfen beschossen.« Er grinste breit. »Keine Sternstunde geflügelter Kriegsführung.«

»Sicher nicht«, murmelte ich. Auch wenn ich nicht daran glaubte, dass Generalin Zarola sich von brennenden Kohlköpfen einschüchtern lassen würde, war ich ein bisschen erleichtert. Immerhin bestand zumindest die vage Möglichkeit, dass Ayk Recht hatte und die Vindr meine Verfolgung aufgegeben hatten.

»Kann ich dir sonst noch irgendwie helfen?«, fragte Ayk mit einem schelmischen Lächeln.

Ich nickte. »Könnte ich vielleicht etwas zu essen bekommen?«

»Aber selbstverfreilich.« Ayk kramte in dem Beutel, den er über seiner Schulter trug, und zog ein Stück Brot und einen Klumpen Käse heraus. »Hier.« Er schob die Plane ein Stück hoch und stopfte beides durch die Gitterstäbe.

Ich musterte das Essen mit einem Anflug von Ekel. »Du weißt schon, dass ich zur Hälfte eine Albin bin?«

»Ja, und?«

»Wir ernähren uns von Zuckerwasser.«

»Tja, Zuckerwasser ist frisch aus«, erwiderte Ayk. »Aber vielleicht kann ich bei unserem nächsten Halt etwas für dich auftreiben. Bis dahin musst du mit diesem Festmahl vorliebnehmen.« Er tippte sich mit zwei Fingern an die Schläfe und beschleunigte seine Schritte, bis er aus meinem eingeengten Sichtfeld verschwand.

Ich ließ mich wieder zurücksinken und tastete nach dem Glücksbringer in meiner Hosentasche.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass ich ihn noch immer bei mir trug, wandte ich mich dem Essen zu. Der Käse widerte mich an, aber mit dem Brot konnte ich mich möglicherweise anfreunden. Davon würde ich höchstens Bauchschmerzen bekommen – und das war immer noch besser als zu verhungern.

Während ich an dem harten Brotlaib herumkaute, bewegte sich der Wagen immer weiter gen Nordosten. Die Straße war nicht gut ausgebaut, was unsere Reise stellenweise holprig gestaltete. Manchmal begegneten wir anderen Reisenden, fahrenden Händlern, Bauern, Hirten und Soldaten. Kornfelder wechselten sich mit Weideflächen für Schafe und Rinder ab. Ab und zu kamen wir an Gehöften oder Landhäusern vorbei. Dörfern und Städten blieben wir vermutlich absichtlich fern. Der Himmel war klar und bis auf ein paar Schönwetterwolken vollkommen ungetrübt, sodass ich die gezackten Umrisse der Oberlande erkennen konnte, die sich blass gegen die azurblaue Weite abhoben.

Erneut flogen meine Gedanken zurück zu meiner Verlobungszeremonie. Die ganze Szene, die sich in meinem Kopf immer und immer wieder abspielte, schien durch die Ereignisse der vergangenen Tage eine neue Bedeutung bekommen zu haben. Wer war Kyano gewesen? Und wieso hatte mein Vater entschieden, ihn ausgerechnet am Tag meiner Verlobung hinrichten zu lassen – und dann auch noch von Eldastin? Hatten Eldastin und Kyano sich gekannt? Welcher Art war das Verhältnis meines Verlobten zur Prinzessin der Wasseralben? Wieso war er voller Blut zu unserer Verlobung erschienen?


ALBENBLUTWhere stories live. Discover now