Albenblut (8|2)

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Ich hatte das Gefühl zu fallen. Jedoch nicht abwärts, sondern aufwärts.

Mit einem Schrei schreckte ich in die Höhe – und fiel sofort wieder zurück, weil mein Körper so schwach und meine Muskeln so weich waren, dass ich mich nicht aufrecht halten konnte. Wie ein schlaffes Handtuch sackte ich auf dem Boden zusammen. Nicht einmal den Kopf heben konnte ich. So sehr ich es auch versuchte, mein Körper wollte mir nicht gehorchen. Tränen der Hilflosigkeit traten mir in die Augen. Ich blinzelte sie weg und sah mich um.

Allem Anschein nach lag ich auf einem stabilen Untergrund, der sich knarrend, schwankend und ruckelnd vorwärts bewegte. Vielleicht ein Karren oder eine Kutsche. Um mich herum war es dunkel, aber nicht vollständig finster. Langsam schälten sich die Umrisse eines Käfigs aus dem Zwielicht. Die Gitterstäbe bestanden aus Eisen, das konnte ich spüren, und die ganze Konstruktion war mit einem Tuch oder einer Plane abgedeckt.

Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie ich hierher gekommen war, doch alles, was nach dem Überfall im Badehaus geschehen war, lag in dichtem Nebel.

War ich etwa entführt worden?

Bei diesem Gedanken schlug mein Herz schneller. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte den Käfig nach einer Fluchtmöglichkeit abgesucht, aber mein Körper war noch immer zu schwach, um sich aufzurichten. Vielleicht war das eine Nebenwirkung des Mittels, mit dem man mich betäubt hatte.

Nur ... wer steckte dahinter? Wer hatte mich entführt?

Die Vindr? Nein, dieses Vorgehen passte nicht zu den Geflügelten.

Der Niederling, der Maggott damit beauftragt hatte, mir die enferische Lunte zu schicken? Wenn ja, warum war ich dann noch nicht tot?

Die Wasseralben, die nach dem Vorfall in Kwylla einen Hass auf meinen Vater haben mussten?

Und was war mit den Waldalben? Wenn ihre Königin bei dem Anschlag auf meinen Vater ebenfalls getötet worden war, hatten sie ein Motiv, mir etwas anzutun. War das der Grund, aus dem Professor Balinn mich förmlich dazu gedrängt hatte, diesen Zug zu nehmen? Hatte er gewusst, was mich in Prim erwarten würde?

Die Schwäche in meinen Gliedern wurde zu einem unangenehmen Brennen in meinen Eingeweiden. Nur mit Mühe konnte ich die aufsteigende Panik zurückdrängen.

Zum allerersten Mal seit ich vom tragischen Schicksal meiner Familie erfahren hatte, fühlte ich mich wirklich allein und verlassen. Und zum ersten Mal wurde mir auch bewusst, dass dies ab jetzt mein Leben sein würde. Keine Artefakt-Suche auf Bruchstätten mehr. Keine hitzigen Diskussionen über untergegangene Kulturen. Keine feuchtfröhlichen Abende im Pittapott. Keine Freunde, Studenten, Vermieterinnen oder Vorgesetzte.

Stattdessen: Verbündete, Untergebene und Feinde.

Mein Leben gehörte nicht länger mir. Ich war nicht mehr ich selbst. Ich war jetzt ein Symbol. Und das bedeutete, dass es Wesen in Hertland gab, die mir Schaden zufügen wollten, um meinem Volk zu schaden. Einem Volk, dem ich mich nicht einmal wirklich zugehörig fühlte. Einem Volk, das mich nie gewollt hatte.

Doch es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Die Würfel waren gefallen und wie ich darüber dachte oder fühlte, interessierte niemanden. Ich war die Tochter meines Vaters und sein albisches Blut floss in meinen Adern.

Das war alles, was zählte.

Erneut traten mir die Tränen in die Augen und diesmal konnte ich sie nicht wegblinzeln.

Ich will das alles nicht, dachte ich. Das ist nicht fair.

Wenn ich schon leiden oder sterben musste, dann doch wenigstens für etwas, an das ich glauben konnte.

Ich hatte keine Angst vor Schmerzen. Nicht einmal vor dem Tod, der mir trotz meiner Lage noch immer wie ein fernes, recht unwahrscheinliches Ereignis vorkam. Für Ludvik oder Bruin wäre ich ohne zu zögern und nicht nur sprichwörtlich durchs Feuer gegangen, aber das Vermächtnis meines Vaters, Albenheim oder die Alben, die dort lebten, waren mir schlicht und ergreifend egal.

Nein, nicht egal, dachte ich und die schwelende Panik in meinem Innern verdichtete sich zu glühend heißem Zorn. Wer auch immer Albenheim zerstören wollte, ich würde ihm nicht im Weg stehen. Ich hasste diesen Ort. Ich hasste ihn mit einer Inbrunst, die ich mir selbst die meiste Zeit über nicht eingestehen wollte. Und das Gleiche galt für seine Bewohner. Sie konnten alle verrecken. Ich würde ihnen keine Träne nachweinen.

Umso mehr Erinnerungen an meine Zeit in Albenheim an die Oberfläche meines Bewusstseins gespült wurden, desto mehr Wut empfand ich. Nicht nur auf meine Familie und die anderen Alben, sondern auch auf mich selbst. Wieso hatte ich mich so behandeln lassen? Wieso war ich nicht früher gegangen oder hatte lauter protestiert?

Und das Allerschlimmste: Ich hatte das Gefühl, dass das kleine, verängstigte Mädchen, das ich damals gewesen war, noch immer in mir schlummerte. Nichts hatte sich verändert. Andere bestimmten über mein Leben und ich sah ihnen dabei zu, weil ich niemanden verärgern wollte.

Sogar jetzt – und trotz meines aufgestauten Zorns – hatte ich Angst, in meiner neuen Rolle als zukünftige Königin zu versagen. Ich wollte einfach niemanden enttäuschen. Vor allem nicht meinen Vater – und das, obwohl ich ihn hasste.

Hasste und liebte.

Es war verrückt. Es war einfach vollkommen verrückt.

Ich war entführt worden und alles, woran ich denken konnte, war mein Volk.

Doch mein Volk würde mir nicht helfen. Die Alben würden mich ihren Feinden zum Fraß vorwerfen. Alle bis auf Eldastin. Allerdings bildete ich mir nicht ein, dass er aus reiner Nächstenliebe für mich kämpfte. Vielleicht hatte er nichts mit dem Anschlag auf meine Familie zu tun, aber bestimmt verfolgte er seine eigenen Interessen.

Wollte er mich heiraten, um Gemahl der Königin zu werden? Das war nicht so gut wie selbst König zu sein, aber natürlich würde er dadurch an Macht und Einfluss gewinnen.

Nur ... irgendwie hatte ich nicht den Eindruck, dass Eldastin an Macht und Einfluss interessiert war. Oder war ich einfach bloß naiv? Wollte ich, dass er auf meiner Seite war, weil ich ihn schon als Kind bewundert hatte? Weil ich wenigstens einen echten Freund in Albenheim haben wollte? Einen Freund unter Meinesgleichen?

Hast du ernsthaft gedacht, er würde sich für dich entscheiden, wenn weniger als sein Leben auf dem Spiel stünde?, hörte ich die Stimme meines Halbbruders aus der Vergangenheit. Und vielleicht hatte er Recht. Vielleicht musste ich mich damit abfinden, dass ich nur ein Mittel zum Zweck war – für meine Geschwister, für meinen Vater, für Eldastin und vermutlich auch für meine Entführer.

Kaum hatte ich das gedacht, kam der Untergrund mit einem plötzlichen Ruck zum Stillstand. Ich rutschte über den Boden des Käfigs und prallte mit dem Rücken gegen die Gitterstäbe. Dabei glitt die Decke, in die ich eingewickelt war, von meinem Körper, sodass ich mit der nackten Haut das kalte Eisen berührte. Der Schmerz schoss wie ein Blitz durch meine Nervenbahnen, bis hinauf in meinen Schädel. Meine Glieder zuckten und meine Zähne schienen zu vibrieren. Stöhnend robbte ich über den Boden, weg von den Eisenstäben. Dabei musste ich mir einen ganzen Streifen Haut abreißen und eine weitere Schmerzwelle fegte durch meinen Körper. Ich zog die Beine an, legte das Kinn an die Brust und biss in die Decke.

Gleichzeitig wurde die Plane über meinem Käfig weggerissen.

»Na, sieh einer an. Sie ist wach«, sagte eine kratzige Stimme. »Das wird dem Chef gefallen.«



ALBENBLUTWhere stories live. Discover now