Glücksbringer (7|3)

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Kaum war der Zug zum Stillstand gekommen, packten wir unsere Sachen und verließen den Waggon.

Der Bahnhof von Prim war dunkel und bedrückend. Vermutlich altsandalusischen Ursprungs. Jedenfalls schlängelten sich die dafür typischen floralen Ornamente und verblassenden Arabesken über die rußgeschwärzten Sandsteinmauern. Die Luft im Innern der Bahnhofshalle war warm, stickig und erfüllt von bitteren Rauchdämpfen. Die eiserne Trieblock strahlte eine Hitze aus, die sie beinahe lebendig wirken ließ. Wie ein schnaufendes, stampfendes Ungeheuer.

Instinktiv senkte ich den Kopf und beschleunigte meine Schritte. Auch Eldastin schien es kaum noch erwarten zu können, wieder an die frische Luft zu kommen.

Leider war es nicht ganz so einfach. Alle Neuankömmlinge mussten sich an einer langen Schlange anstellen und einem finster aussehenden Beamten mit einem buschigen Schnauzbart ihren Namen, ihre Adresse und den Grund ihrer Reise verraten. Außerdem wollte der Mann wissen, wo wir übernachten und wie viel Geld oder Waren wir bei uns tragen würden.

Zum Glück schien Ludvik auf diese Fragen vorbereitet zu sein. Jedenfalls tischte er dem Beamten eine herzerweichende Geschichte von seiner kranken Großmutter auf, die der Mann natürlich keine Sekunde lang glaubte. »Sie wollen mir also weismachen, dass Sie und Ihre ...« Er musterte Bruin, Eldastin und mich abschätzend. »... Geschwister auf dem Weg zum schwarzen Schlund sind, um dort Ihre Großmutter zu besuchen?«

Ludvik lächelte breit. »Oma Elschen. Oder auch die rote Elster.« Er zwinkerte seinem Gegenüber verschwörerisch zu. »Und jetzt raten Sie mal, was die alte Schrulle beruflich macht.«

Der Beamte wirkte nicht, als hätte er Interesse an einem Quiz. Würde Ludvik nicht die Bronzebrosche der Drachenkrieger tragen, hätte er ihn vermutlich längst verhaften lassen. Jedenfalls schielte er immer wieder zu den Männern und Frauen in den weißen Waffenröcken, die den Ausgang der Halle bewachten und dafür sorgten, dass niemand entwischte. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie sehr sie unter ihren metallischen Brigantinen und den langen Umhängen schwitzen mussten.

»Okay, das reicht jetzt«, schaltete Bruin sich ein, schob Ludvik beiseite und schenkte dem Beamten ein strahlendes Lächeln.

Sogar ich konnte spüren, wie ihr Talent zu wirken begann. Jeder Mensch in Reichweite ihrer Begabung drehte sich nach ihr um.

Ludvik musste es ebenfalls spüren. Er schmunzelte und senkte den Blick auf seine Stiefelspitzen.

»Wir können das doch bestimmt irgendwie regeln ...«, schnurrte Bruin mit einem lasziven Augenaufschlag. »Schließlich sind wir nur auf der Durchreise und haben nicht vor, länger als nötig in Ihrer schönen Stadt zu bleiben.«

Der Beamte starrte sie an. Ausdruckslos. Verwundert. Wie ein Kind, das zum ersten Mal die leuchtenden Dekorationen am Mittwinterfest erblickte.

Die Situation war mir unangenehm. Ich wandte mich ab und beobachtete Eldastin, der seinen Blick durch die Halle schweifen ließ. Kein Schweißtropfen glitzerte auf seiner Stirn, während ich das Gefühl hatte, langsam zu zerfließen. Dazu kam, dass ich seit Tagen kein Bad mehr gesehen hatte. Bestimmt stank ich wie ein Wiesel in der Paarungszeit.

»Vielen Dank, Danke«, hörte ich Bruin sagen.

Ludvik fasste mich an den Schultern und dirigierte mich zum Ausgang.

Die Soldaten der weißen Garde musterten uns eingehend. Alle trugen Säbel, Federhelme und bodenlange Umhänge mit dem Pferdebanner von König Enno de Kinnig, dem amtierenden Herrscher der Fermark.

Obwohl das Flachland im Zentrum des Kontinents inzwischen in erster Linie für seine Landwirtschaft bekannt war, blickte es auf eine bewegte Geschichte zurück, in der es abwechselnd von verschiedenen Reiterstämmen beherrscht worden war. Zum Zeitpunkt des Großen Sturzes mussten sich etwas weiter nördlich von hier die Winnen und die Sandalusier gegenübergestanden haben. Der wilde Norden gegen den sandigen Süden Hertlands. Die sandalusischen Truppen waren damals auf dem Vormarsch gewesen, hatten ihre Gegner bis zur Alpforte, zwischen dem Kallrim und dem Maladian, zurückgedrängt – und waren schließlich in der legendären Schlacht um Albrück von einem Bündnis aus Winnen, Maraschen und Drausen zurückgeschlagen worden. Manchmal ärgerte es mich, dass es keinen Weg gab, in die Vergangenheit zu reisen und Zeugin dieser Schlacht zu werden. Wobei ... möglicherweise hatte es einst Artefakte gegeben, die dieses Kunststück erlaubten.

Dieser Gedanke holte mich zurück in die Wirklichkeit. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie unter der glänzenden Brünne einer Soldatin etwas hervorblitzte, das gut und gerne ein Artefakt aus silbrigem Estellit sein konnte.

Noch ehe ich einen genaueren Blick riskieren konnte, hatte Ludvik mich auch schon durch die Drehtür ins Freie geschoben. Die Sonne knallte auf uns herunter und ich hatte das Gefühl, vom Backofen auf einem Grill zu landen.

Ludvik stöhnte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Offenbar wird es zur Sienada nochmal richtig sommerlich. Wie passend.«

»Ach, das ist ja schon morgen«, murmelte Bruin und zupfte ihr Dekolleté zurecht.

»Wollen wir uns nicht vielleicht etwas frisch machen, bevor wir was essen?«, fragte ich, ohne echte Hoffnung, dass die Anderen einwilligen würden, doch zu meiner Überraschung nickten Ludvik und Bruin. Nur Eldastin wirkte nicht völlig überzeugt.

»Wenn wir stinken wie Iltisse, werden wir noch mehr Aufmerksamkeit erregen«, sagte Bruin.

Ludvik nickte. »Es gibt hier in der Nähe ein öffentliches Badehaus.«

»Ein öffentliches Badehaus?«, wiederholte ich. »Endet das wieder so wie in der Nebelstube?«

»Nein, nein«, versicherte mir Ludvik. »Wirklich nur ein Badehaus. Ganz seriös.« Er lächelte verlegen. »Aber man kann sich eine Privatkabine mieten, falls man schüchtern ist und beim Baden lieber ungestört sein will.«

»Das wäre vermutlich besser für unsere beiden Oberlinge«, erwiderte Bruin. »Nur, damit es nicht wieder zu Problemen kommt.« Sie schirmte ihre Augen mit der flachen Hand vor der Sonne ab und spähte über den Bahnhofsvorplatz, der von einer Bronzeskulptur König Ennos auf einem mächtigen Streitross geziert wurde. Direkt vor dem Denkmal hatten sich mehrere Stadtwächter und Soldaten versammelt. Sie schienen Informationen auszutauschen. Offenbar hatte Ludvik Recht: Die Sicherheitsvorkehrungen waren seit dem letzten Vindr-Angriff drastisch erhöht worden. Ich war jedoch unschlüssig, ob ich mich darüber freuen sollte.

»Wir müssen vorsichtig bleiben«, sprach Ludvik aus, was wir vermutlich alle dachten. »Nur kurz alles abschrubben, dann treffen wir uns zum Essen und beraten, wie wir als Nächstes vorgehen wollen.« Er wandte sich an Eldastin: »Was sagst du Alben-«

Doch Eldastin stand nicht dort, wo wir ihn erwartet hatten. Er stand überhaupt nicht mehr in unserer Nähe.

Eilig sah ich mich um und entdeckte ihn an einem der hübsch geschmückten Souvenirstände am Rand des Bahnhofplatzes.

Ludvik, Bruin und ich tauschten alarmierte Blicke, dann stürzten wir gleichzeitig los.

Ich wusste selbst nicht so genau, was ich erwartete. Vielleicht hatte Eldastin etwas Verdächtiges gesehen oder gehört. Vielleicht war er angepöbelt worden. Vielleicht hatte jemand etwas Abfälliges über Albenheim gesagt oder er wollte mal wieder meine Ehre verteidigen.

Doch als wir bei ihm ankamen, drehte er sich um und präsentierte uns zwei Tierfigürchen aus Messing mit einem kleinen Glöckchen im Innern. Lächelnd ließ er sie an ihren Fäden hin und her baumeln, was ein hohes Bimmeln erzeugte.

»Was ist das?«, fragte ich und sah an Eldastin vorbei zu dem Souvenierstand, an dem hunderte dieser Figürchen in allen Farben und Formen angeboten wurden.

»Glücksbringer«, antwortete Eldastin.

»Sehr beliebt in der Fermark«, ergänzte Ludvik und tippte mit dem Zeigefinger gegen eine vergoldete Katze mit erhobenen Pfoten, von denen mehrere Dutzend in Büscheln vom Vordach der Bude herabbaumelten und das hereinfallende Sonnenlicht reflektierten.

Ich runzelte die Stirn. »Aber das ist doch nur Schrott.«

»Was Alina sagen will ... die Elemente dieser niedlichen kleinen Tierchen sind alle in Balance«, bemerkte Bruin mit spöttisch gespitzten Lippen.

»Ich will sagen, dass sie wertlos sind. Nur ...« Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »... Müll.«

»Sie sind nicht magisch«, stimmte Ludvik mir zu. »Ihre Kraft kommt aber auch nicht von den Elementen, sondern vom Glauben der Menschen. So sagt man jedenfalls.«

»Hokuspokus«, brummte ich. Für diese Art von Aberglauben war nun wirklich kein Platz in dieser Welt. Meiner Meinung nach wollte der Verkäufer bloß mit der Naivität seiner Kundschaft Geld verdienen. Umso entsetzter war ich, als Eldastin dem Händler mehrere Mark über den Tresen schob und die wertlosen Glücksbringer einsteckte.

Als er meinen anklagenden Blick bemerkte, sagte er nur: »Wir können doch alles Glück gebrauchen, was wir finden, oder?«


ALBENBLUTWhere stories live. Discover now