Unsanftes Erwachen (4|1)

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In einer Ecke meines Zimmers saß eine Maus. Eine Sandalusische Wüstenmaus. Was machte eine Wüstenmaus so weit im Norden? Und wieso hatte sie das Gesicht meiner Mutter?

Die Maus spähte zu mir herüber. Ihre Tasthaare zuckten. Dann hob sie die Vorderbeine und putzte sie sich das sommersprossige Gesicht.

Verwundert sah ich ihr zu, bis von draußen melodisches Gelächter hereindrang.

Ich schlug die Decke zurück, glitt aus dem Bett und huschte zum Fenster. Unter mir ergoss sich das Häusermeer Albenheims über die Ruinen der Oberlande, bis hin zu den Hängen und Tälern des Krumrimgebirges. Die ganze Stadt glänzte und schimmerte wie frisch poliert. Ein Kunstwerk aus fremdartigen Materialien, die beim Sturz in die Menschenlande entstanden waren: Perlmorin, Ivorin und Armorin. Allesamt weiß wie Porzellan und irisierend wie Perlmutt. Und als wäre das noch nicht genug der Pracht, waren da auch noch die Eiskristalle, die in der Luft tanzten und den Sonnenschein in Millionen glitzernde Lichtreflexe zersplitterten.

»Hâl, Alina!«

Ich hob den Blick und entdeckte die jungen Alben, die auf den Winden dahinglitten. Dabei spielten sie sich gegenseitig eine rotglühende Maribel zu.

»Willst du mitspielen?«, fragte Oriane, während die Luftströmungen ihre blassblonden Haare neu drapierten, als wären sie ihre persönliche Kammerzofen.

Ich nickte.

»Dann komm.« Oriane lächelte starr. »Komm raus zu uns.«

»Komm, komm, komm!«, drängten auch die anderen Albenkinder und bildeten einen Halbkreis vor meinem Fenster.

Ich sah mich nach der seltsamen Maus um, doch an ihrer Stelle entdeckte ich meinen Vater. Er stand in einer Ecke meines Zimmers und hob sich in seiner königlichen Svila kaum gegen die leuchtend weißen Perlmorin-Mauern ab. Sein Haar war silbern, seidig glatt und im Nacken zu einem langen Zopf zusammengefasst, der ihm beinahe bis zur Taille reichte. Von seinem Gesicht sah ich nur die mattgrauen Augen und die krumme Narbe an seiner Wange, die manchmal – ganz unvermittelt – zu bluten begann.

So auch jetzt.

Während er mich ansah, färbte sich seine linke Gesichtshälfte langsam tintenblau. Das Blut rann über seine marmorne Haut, tropfte von seinem Kinn und ergoss sich wie ein Sturzbach über seine Svila.

Das kann nicht sein, dachte ich. Das geht so nicht.

»Komm, Alina! Komm, spiel mit uns!«, riefen Oriane und die anderen Albenkinder vor dem Fenster.

Ich wandte mich von meinem Vater ab und kletterte auf den Fenstersims. Der Wind zerrte an meinem Kleid. Die Stadt unter mir schien sich immer weiter zu entfernen. Als würde sie in der Tiefe versinken.

»Keine Angst, Alina«, sagte Oriane und reichte mir ihre zarte Hand.

Ich nahm sie und ließ mir von ihr aus dem Fenster helfen. Der Wind trug mich. Schneeflocken umschwirrten meinen Kopf. Überall funkelte und glitzerte es. Als befände ich mich im Innern eines Diamanten.

Doch dann packte Oriane fester zu und warf ihre zierliche Albengestalt ab. Zwei blutgetränkte Schwingen brachen mit einem schauerlichen Reißen und Krachen aus ihrem Rücken. Ihr Haar färbte sich eisblond mit roten Spitzen und ihre Augen wurden zu schwarz umrandeten Spiegeln voller Boshaftigkeit.

»Keine Angst, Alina«, schnarrte Generalin Zarola mit verzerrter Stimme. »Ich lasse dich nicht fallen.«

Mit einem schrillen Schrei riss ich mich von ihr los, verlor den Halt auf den Luftströmungen und stürzte. Ich kreischte und ruderte mit den Armen. Doch es half nichts. Ich fiel wie ein Stein in die Tiefe. Die Stadt raste auf mich zu. Hausdächer und Berggipfel sprangen mir entgegen. Ich war verloren. Unaufhaltsam verloren. Dann endeten meine Gedanken. Der Boden war heran. Mein Körper zerschellte im Schnee. Ich hörte das Bersten und Splittern meiner Knochen ...

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