Im Mondlicht (8|3)

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Durch einen Tränenschleier konnte ich die Umrisse einer hochgewachsenen Gestalt erkennen, die mir auf seltsame Weise bekannt vorkam. Pechschwarz hob sich ihre Silhouette gegen das Mondlicht ab.

Das Blut stockte mir in den Adern. Für einen Moment vergaß ich sogar den Schmerz. Angestrengt blinzelte ich ins Halbdunkel. Mit jedem Wimpernschlag schien die Identität meines Gegenübers klarer zu werden.

»Sie ...«, hauchte ich.

Vor mir stand der Drachenkrieger, der Bruin aus dem Bad geholt hatte. Der Mann mit der Halbglatze und dem blau gefärbten Zopf.

»Ah ... du erinnerst dich«, sagte er. »Beeindruckend. Die meisten Menschen wissen nach einer Prise Schlummerkraut nicht einmal mehr ihren eigenen Namen.«

»Ich bin kein Mensch«, presste ich heraus. Die Worte klangen jedoch eher wie ein Wimmern.

»Das ist wahr.«

Der Blauhaarige sah auf mich herab.

Am liebsten hätte ich mich weggedreht oder fester in die Decke eingewickelt, aber die kurze Strecke, die ich über den Boden gerobbt war, hatte mich bereits alle verbliebene Kraft gekostet. Außerdem war es mir im Grunde egal, ob er mich nackt sah. Vermutlich hatte er bei meiner Entführung und auf dem Weg hierher schon mehr als genug gesehen.

»Keine Sorge«, sagte er, nachdem er mich gemustert hatte. »Die Lähmung wird in ein paar Stunden verschwunden sein. Bei jemandem wie dir eher schneller.«

Bei jemandem wie dir, wiederholte ich in Gedanken.

»Wer ...« Ich kämpfte mit meiner Zunge. »... bist du? Warum ...?«

»Warum wir dich entführt haben?«, vervollständigte mein Gegenüber mit einem schmalen, wie mit dem Rasiermesser gezogenen Lächeln.

Ich nickte. Oder zumindest versuchte ich es.

»Das solltest du besser mit dem Chef besprechen, Zuckerfee.« Der Blauhaarige deutete mit ausgestrecktem Arm durch die Gitterstäbe zu einem Haufen in einer Ecke des Käfigs. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich darin meine Kleidung, die ich im Badehaus zurückgelassen hatte. »Wenn du dich wieder bewegen kannst, zieh dir was an, dann mache ich euch miteinander bekannt.«

Stimmen und Gelächter zogen meine Aufmerksamkeit auf sich.

Ich spähte an meinem Gesprächspartner vorbei. Allem Anschein nach hatten wir Prim verlassen. Jedenfalls konnte ich keine Häuser entdecken. Stattdessen waren wir in alle Richtungen von einer flachen Ebene umgeben. Der Mond stand voll und rund am Himmel und überzog das halbhohe, im Wind raschelnde Gras mit einem silbrigen Schimmer.

Etwas abseits des Weges waren mehrere Männer dabei, Karren zu entladen und ein Lagerfeuer zu entzünden. Dabei alberten sie herum und machten Scherze, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Abend.

Meine Gedanken begannen zu rasen. In Anbetracht der späten Uhrzeit mussten wir bereits einige Stunden unterwegs sein. Das bedeutete, wir hatten uns bestimmt schon viele Meilen von Prim entfernt. Und das wiederum hieß, dass ich auf mich alleine gestellt war.

Der Blauhaarige musste meine Blicke richtig deuten. »Schrei nur«, sagte er. »Hier draußen hört dich niemand.«

Ich presste die Lippen aufeinander.

Mein Gegenüber lachte heiser. »Sei froh, dass wir dich am Leben gelassen haben.« Er fuhr mit der Hand über die Bronzebrosche mit dem Wappen der Drachenkrieger, die seinen Umhang zusammenhielt. »Wir hätten dich nämlich auch ganz einfach töten können, weißt du?«

»Und warum ...« Ich räusperte mich verkrampft. »Warum habt ihr es nicht?«

»Wir machen, was der Chef sagt. Ganz einfach.« Der Blauhaarige nickte, als wollte er sich selbst beipflichten. »Sei einfach schön brav, dann darfst du ab und zu mal frische Luft schnappen.«

Mit diesen Worten und einem kurzen Winken zog er die Plane wieder über den Käfig, was ein empörtes Pfeifkonzert seitens der Männer am Lagerfeuer zur Folge hatte.

Ich stöhnte. In was war ich hier hineingeraten? Wer waren diese Männer?

Ganz offensichtlich handelte es sich um Menschen. Vielleicht irgendwelche Gauner oder Söldner. Also lautete die Frage wohl eher: Wer war ihr Chef? Mit Sicherheit kein Alb oder Vindr. Keines dieser Völker hätte sich dazu herabgelassen, mit Menschen zusammenzuarbeiten. Also arbeiteten die Männer vermutlich für einen anderen Menschen oder einen Niederling.

Während ich diesen Gedanken im Kopf sezierte, spannte ich vorsichtig die Muskeln an und prüfte, ob ich mich schon wieder richtig bewegen konnte.

Es dauerte jedoch noch ein paar Minuten, bis es mir gelang, mich aufzusetzen. Und noch ein paar Minuten länger, bis ich meine Kleidung zu fassen bekam.

Als ich Bluse und Hose auseinanderzog, fiel mir das kleine Messingfigürchen entgegen, das Eldastin gekauft hatte.

Ich sammelte es vom Boden des Käfigs auf und hielt es in den fahlen Mondschein, der durch einen Spalt in der Plane hereindrang. Langsam drehte ich den Glücksbringer hin und her. Es handelte sich um einen großen Marder oder etwas in der Art. Ich erinnerte mich daran, dass Nevellin und ich während eines Ausflugs ins Krumrim-Gebirge mal einen wilden Otter beobachtet hatten. Damals hatte mein Halbbruder mir zeigen wollen, wie unsere Vorfahren kleine Vögel dressiert hatten, damit sie Aufgaben für sie erledigten. Aber das war natürlich nur ein Vorwand gewesen, um sich mit seinen Freunden aus der Stadt zu schleichen und die Menschen in den umliegenden Dörfern zu ärgern. Seine kleine Halbling-Schwester hatte er darüber schon bald vergessen gehabt.

Ich erinnerte mich noch gut daran, wie wütend ich damals auf Nevellin gewesen war. Stundenlang hatte ich am Ufer eines flachen Bachs gesessen und meinen Zorn in mich hineingefressen.

Als mein Halbbruder schließlich von seinem Streifzug zurückgekehrt war, hatte er mir eine bunte Zuckerstange mitgebracht. Soweit ich mich erinnerte, war dieses Geschenk das einzig wirklich Nette gewesen, das er je für mich getan hatte. Wusste der unheilige Essenkehrer, was ihn dazu bewogen hatte!

Ohne es zu bemerken, schloss ich die Hand um die Messingfigur und ballte sie zur Faust, bis ich fühlen konnte, wie sich ihre Kanten in meine Haut bohrten.

Ich hasste meinen Bruder für die Art und Weise, wie er mich behandelt hatte, aber zu wissen, dass er tot war oder im Sterben lag, war kein gutes Gefühl. Letztendlich hatte er sich bloß so verhalten, wie sein Vater es ihm vorgelebt hatte. Und bestimmt hatte er auch gute Seiten gehabt.

Aber galt das nicht auch für die anderen Alben? Verdiente eine ganze Stadt den Untergang, nur, weil ihre Bewohner mich schlecht behandelt hatten?

Als Königin war es vermutlich meine Pflicht über diesen Banalitäten zu stehen. Jedenfalls hatte die Geschichte gezeigt, dass Königen, die ihre persönlichen Fehden vor die Geschicke ihres Volks gestellt hatten, keine lange Regentschaft oder Lebenszeit vergönnt gewesen war.

Wollte ich überhaupt Königin sein?

Ich kannte die Antwort auf diese Frage, doch ich bezweifelte, dass sie eine Rolle spielte. Es war, wie Eldastin gesagt hatte: Du wirst die neue Königin von Albenheim oder unsere Feinde werden dich töten. Das sind die einzigen zwei Möglichkeiten.

Mit einer neu erwachten Entschlossenheit wischte ich mir die Tränen von den Wangen und schlüpfte in meine Kleidung. Dann verbarg ich den Glücksbringer in meiner Tasche und versuchte, die Männer am Lagerfeuer auf mich aufmerksam zu machen.


ALBENBLUTWhere stories live. Discover now