10 | Entscheidung

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Ich bekam die gesamte Nacht kaum Schlaf, da ich öfters aufwachte und mir das Gesicht mit kalten Wasser abkühlte. Nun war ich schon wieder vor dem eigentlichen Wecken auf, saß auf dem Bett und und fuhr mir bedenkenlos mit einer Hand über das Gesicht. Sofort begrüßte mich dafür ein Schmerz, welcher durch meinen Körper fuhr. Doch ich ignorierte es, stand auf und machte neben dem Bett ein paar Liegestütze bis mir die Oberarme ebenfalls wehtaten, um die Zeit wie immer totzuschlagen.

Dann ging ich mit den anderen Häftlingen duschen, wobei sie mich wieder anstarrten. Die Lippen aufeinanderpressend, drehte ich mich weg, sodass die meisten nun nicht mehr auf meinen Rücken oder Hintern blicken konnten, sondern auf meine Seite.
Ich seifte mich ein und wusch meine rabenschwarzen Haare, bis ich vor Schaum kaum noch etwas sehen konnte.
Nachdem ich mich abgeduscht hatte, griff ich zum Handtuch und wickelte dieses um meine Hüfte, womit ich darauffolgend zum Umkleideraum lief, um mich dort schnell abzutrocknen. Danach zog ich mich an, ging dann gleich weiter frühstücken und anschließend zu meinem Training, bei dem ich meinen Frust auslassen konnte, den ich jeden Tag immer wieder aufs Neue in mich hineinfraß.

Zur Hofpause, lehnte ich mich an eine Tribüne an und schaute unfokussiert auf etwas in der Ferne. Verzweiflung und Unwohlsein staute sich immer weiter in mir an und ich wusste schon bald nicht mehr, was ich tun sollte.

Mein Zustand wurde also nicht verbessert, als ich nach dem Aufenthalt auf dem Gelände, zu Silas geführt wurde, da ich dort bereits erwartet wurde. Ich hatte das Gefühl, dass mich mein Körper vor lauter Anspannung bewegungsunfähig machte.

Als ich mit dem Wärter beim Büro ankam, begrüßte dieser einen anderen mit einem leichten Nicken, der bereits neben der Tür stand.
Ich verlagerte währenddessen das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

Die Tür wurde einen Augenblick später geöffnet und in dieser erschien mein - wie immer - lächelnder Sozialarbeiter.
"Guten Morgen, Alex." Er hielt mir seine Hand hin.

"Morgen", murmelte ich und nahm dessen Hand nach kurzem Zögern in meine eigene, woraufhin ich sie kurz schüttelte. Silas nickte und sah dann dem Wächter zu, wie dieser hinausging und die Tür hinter sich schloss.
"So... Couch?"

Ich ließ dessen Hand wieder los und runzelte die Stirn.
"Nein." Es erinnerte mich einfach zu sehr an die Therapie und die Erlebnisse, die damit wieder hervorgebracht wurden. Stattdessen setzte ich mich wie gewohnt auf den Stuhl vor dessen Schreibtisch.

"Wie du willst." Silas blieb diesmal vor seinem Schreibtisch stehen, einen Meter von mir entfernt, lehnte sich gegen diesen an und blickte dann auf mich hinab.
"Wie lief das Training heute morgen?"

"Gut... also besser", sagte ich und wirkte dabei ziemlich nervös. Zudem wippte ich mit einem Bein auf und ab. Ich hatte vor dessen Reaktion Angst, wenn er jemals davon erfahren würde, auf wen oder was ich stand. Würde er wie mein Vater reagieren? Verdammt, ich konnte es mir nicht vorstellen und wollte es auch gar nicht. Deshalb wollte ich gleich etwas dagegen unternehmen, damit Silas es am Besten nie erfahren würde.

"Klingt sehr gut", meinte er plötzlich freundlich und riss mich somit aus den Gedanken.
"Und mit den Zeiten geht das bei dir auch klar?"
Ich zögerte erst, darauf zu antworten, ging dann aber doch darauf ein.
"Ich finde es lästig."

Silas nickte verständnisvoll. "Es gibt heute eine Konferenz, da bei den Schachleuten wohl ebenfalls Probleme aufgetreten sein sollen. Vielleicht werden die Zeiten ja dann wieder geändert. Hoffen wir das Beste, hm?", meinte er aufmunternd und lächelte dabei.

Warum musste er immer so nett sein? Das machte es für mich bloß noch schwerer, da ich gerade sowieso nicht klar denken konnte und eigentlich total neben mir war. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, atmete frustriert aus und schloss kurz die Augen.
"Hmh, ganz toll."

"War das jetzt Ironie oder nicht?", fragte Silas nun ernster und legte den Kopf ein klein wenig schief. Seine blauen Augen hatten den Anschein als würden sie mich durchschauen, und das jedes Mal aufs Neue. Doch natürlich war dem nicht so.

"Eher sarkastisch", schnaufte ich kurz und starrte die Decke des Raumes an, bevor ich meinen Blick wieder auf Silas richtete, welcher fragend eine Augenbraue hob.
"Wieso das denn? Ich dachte eigentlich eher, dass du mir vor Freude von dem Stuhl kippst."

Silas hatte mit seiner Vermutung recht. Eigentlich freute ich mich ja auch, konnte dies aber nicht wirklich zeigen, weil ich der Meinung war, dass ich mir gleich eh alles versauen würde.
"Spielt sowieso keine Rolle", gab ich trocken und schulternzuckend von mir.

"Wieso das denn nicht?" Mit verschränkten Armen fing er an mich zu mustern.
"Was genau ist jetzt los? Du wirkst von heute auf morgen total desinteressiert bezüglich allem, obwohl es dich vor wenigen Minuten noch gestört hat, wie der Zeitplan momentan aussieht."

"Na darum!", sagte ich nun etwas lauter.
"Nichts, gar nichts", fügte ich dann schnell hinzu. "Vor wenigen Minuten? Und ich dachte, ich bin schlecht in Mathe."
Ich suchte in diesen Moment wirklich Streit, wo ich nur konnte. Auch wenn es noch so absurd war.
Aber es schien zu funktionieren, denn der Ältere spannte sich sichtlich an und veränderte seine Körperhaltung bloß minimal.
"Mit solch einer Einstellung brauchst du gar nicht erst deinen Arsch hierher bewegen, Alexander. Und erst recht nicht, wenn du so frech mir gegenüber bist. Vergiss eines nicht: Ich bin hier der Boss im Raum. Derjenige, der das Sagen hat. Und ich bin auch derjenige, der versucht dir zu helfen. Aber wenn du diese Hilfe nicht willst, dann solltest du zurück in deine Zelle und in der Freiheit ganz klar dieselben Fehler tun, wie vor einigen Jahren."

Ich verkrampfte mich leicht als er so auf mich einredete und krallte mich in den Stoff des Overalls, weil ich meine Hände auf meinen Oberschenkeln zu liegen hatte. Mein Herz schlug schneller und ich senkte vor Demut den Kopf, da ich mit jemandem, der auf einmal so dominant wirkte, eigentlich gar nicht klarkam. Es erinnerte mich zu sehr an meinen Vater.

Doch während ich tief durchatmete, sammelte ich meinen ganzen Mut zusammen und hob den Kopf wieder an.
"Dieselben Fehler?!"
Ich stand aufgebracht auf und machte einen Schritt auf ihn zu.
"Ich habe nie etwas falsch gemacht!" Jedenfalls hätte ich nie denselben Fehler begehen können, da ich meinen Vater bereits vor elf Jahren umgebracht hatte. Aber das interessierte Silas anscheinend nicht.

Also packte ich meinen Gegenüber einfach am Kragen, zog ihn vom Schreibtisch weg und drückte ihn an die nächstbeste Wand. In Silas' blauen Augen begann wie auf offener See ein Sturm zu toben. Er schien geschockt und verletzt zugleich, und ich wusste selbst nicht, was in mich gefahren war.
Mir benebelte diese Nähe fast meine Gedanken, während ich verzweifelt versuchte, bei der Sache zu bleiben. Scheiße.

𝖠𝖻𝗀𝖾𝖿𝗎𝖼𝗄𝗍 𝗐𝗂𝖾 𝖠𝗅𝖾𝗑𝖺𝗇𝖽𝖾𝗋 | manxmanWhere stories live. Discover now