36 | Fäden ziehen

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Nach dem zweistündigen Gespräch mit meinem Therapeuten, rauchte mir der Kopf. Er wusste wie immer alles: Weshalb ich zum Haus meiner Kindheit wollte, dass ich Silas wirklich liebte und wegen ihm all diesen Mist abgezogen habe und dass ich meine Medikamente regelmäßig einnahm.
Außerdem solle ich mir wegen des Zeitungsartikels keine Sorgen machen, da es auch andere gab, die allerdings auf meiner Seite waren und meinen Adoptivvater verteufelten.

Doch mir wäre es lieber, wenn sie überhaupt nicht über mich schreiben würden. Ich mochte es nicht auf diese Weise in die Öffentlichkeit gedrängt zu werden.

Vor dem Gebäude setzte ich mich auf eine Bank und schrieb Silas eine SMS, dass ich auf ihn wartete und abgeholt werden könnte. Nur wenige Sekunden später erhielt ich schon die Nachricht, dass er sich sofort auf den Weg machte und ich mich nicht vom Fleck bewegen sollte.

Mit einem Stirnrunzeln schob ich das flache Handy wieder in meine Hosentasche und schaute auf die andere Seite der Straße. Nichts besonderes, bloß ein Blumenladen, vor dem sich einige Kunden angesammelt hatten, die die beeindruckenden Blumensträuße und riesigen Pflanzen bewunderten, und daneben war ein kleiner Klamottenladen, in dem sich auch Menschen befanden.

Vielleicht sollte ich mir demnächst auch einmal Gedanken darüber machen, arbeiten zu gehen. Doch als was und wo?

Ich seufzte leise, senkte meinen Kopf und analysierte meine Hände mit den Fäden. Ich drehte sie so, dass ich die Innenflächen und somit meine alten und verblassten Narben betrachten konnte, die davon kamen, dass ich mich damals in einem Haufen aus Scherben abstützen musste, in den mich mein Vater getreten hatte. Mein letzter, ernsthafter Traum, der mir den Schlaf immer wieder aufs Neue raubte. Mit einem Daumen fuhr ich über eine längere Narbe, dabei presste ich meine Lippen zu einer dünnen Linie aufeinander.

"Alex?"

Ich schreckte hoch, weshalb sich meine Gedanken in Luft auflösten und ich meine Hände voneinander löste.

"Hey, alles in Ordnung?" Silas. Seine Stimme klang wie immer, wenn er mich in meinen schwachen Momenten erwischte, in denen ich mich wie ein verängstigtes Reh verhielt. Ruhig, weich und besorgt.

Wie lange war er schon hier?

"Ja, alles gut", murmelte ich. "Hab bloß nochmal über das Gespräch nachgedacht."
Ich machte eine Kopfbewegung Richtung Eingangstür des Gebäudes und mein Gegenüber folgte der Geste mit den Augen und nickte kurz darauf leicht.
"Hm, achso... Willst du darüber reden?"

Silas wusste von vornherein, dass er sich diese Frage hätte sparen können, jedoch hatte er noch immer Hoffnung, dass ich ihm etwas erzählen würde. Aber ich konnte nicht, da ich nicht von ihm verurteilt oder bemitleidet werden wollte.

Ich hörte ihn leise ausatmen, als er von mir keine Antwort bekam. Es frustrierte ihn, das konnte ich mir denken und es tat mir verdammt leid.

"Na komm", sagte er schließlich, um das Schweigen zu brechen und wieder ein Gespräch aufzubauen. "Wir müssen jetzt zum Krankenhaus."

"Okay", meinte ich nickend, als ich mich von der Bank erhob und auf Silas' Wagen zuging, den er nicht abgeschlossen hatte, weswegen ich sofort einsteigen und mich anschnallen konnte.

Die Fahrt dorthin war genauso still, wie ich es erwartet hatte, bis Silas wieder das Wort ergriff: "Ich habe übrigens gute Neuigkeiten."
"Ja?" Voller Neugier blickte ich zu ihm hinüber und bemerkte sein leichtes Schmunzeln. "Welche denn?"
"Sie hatten deine Zeugnisse und Geburtsurkunde wirklich noch. Sie sind in meiner Tasche." Silas deutete nach hinten auf die Rückbank zu seiner schwarzen Aktentasche. "Jetzt können wir uns Gedanken über deine Zukunft machen."

Ich zog meine Augenbrauen überrascht nach oben, da ich damit nun wirklich nicht gerechnet hatte.
"Danke, Silas."
"Du musst mir nicht danken, Alex. Verstanden?"
"Okay", nuschelte ich leise, weil ich es nicht wirklich ernst nahm. Natürlich musste ich ihm danken! Und bloße Worte reichten dabei nun mal nicht aus.
"Wie war das?", hakte er noch einmal nach und ich musste schlucken.
"Ja, verstanden."
"Gut." Er lächelte zufrieden.

Nach weiteren fünf Minuten kamen wir beim Krankenhaus an, in das mich Silas begleitete. Wir warteten mit anderen Leuten in einem Warteraum, bis wir von einem Arzt geholt wurden. Dieser fragte mich, ob Silas mitkommen und zusehen dürfte und ich willigte ein, da es sich ja nur um meine Hände, meinen Kopf, und Gott sei Dank nicht um meinen Rücken, handelte.

Doch ich freute mich zu früh, als der Arzt mich nach dem Fädenziehen nach meinen Rippen fragte.
"Dürfte ich mir das nochmal genauer ansehen?"

Er deutete kurz auf meinen Bauch, weshalb ich Silas einen panischen Blick zuwarf. Dieser verstand mich auch ohne Worte, denn er stieß sich leicht von der Wand ab, an der er die gesamte Zeit über stand und verließ dann den Behandlungsraum.
Der Arzt ließ dies unkommentiert, wahrscheinlich weil er sich die Hälfte bereits denken konnte.

Nachdem ich mein Shirt hochgezogen hatte, wurden mir die Rippen einzeln abgetastet und an einigen bestimmten Stellen äußerte ich mich aufgrund von leichten Schmerzen. Da der Vorfall bereits länger her war und ich bereits gründlich untersucht worden war, riet der Arzt mir jetzt nur, mich im Alltag nicht allzu viel zu bewegen und eventuell Schmerztabletten zu nehmen, wenn ich es nicht mehr aushielt. Ich dankte ihm im Anschluss und kehrte dann zu Silas zurück, der vor dem Zimmer auf einem der Plastikstühle saß.

"Wir können gehen."

Silas stand auf und war sofort einen halben Kopf größer als ich, er zupfte an seinem weißem Hemd herum und ging dann mit schnellen und eiligen Schritten den Flur entlang. Ich folgte ihm und hatte Mühe, mit diesem Tempo mitzuhalten, beschwerte mich aber nicht.

Draußen wurde mir die Wagentür geöffnet, doch ich stieg noch nicht ein, weshalb mich Silas mit einem verwirrten Blick musterte.
"Ist alles okay?" Ich musste das einfach wissen. "Du bist in letzter irgendwie... komisch", murmelte ich letzteres leise.
"Komisch?" Der Angesprochene lächelte schief und strich sich gelassen durch die Haare, daran konnte man aber erkennen, dass er seine Verlegenheit zu verstecken versuchte.
"Bin ich nicht, Alex. Du musst dir wegen nichts Sorgen machen. Und jetzt steig ein."

Ich glaubte ihm kein einziges Wort.
"Ist es, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe?", platzte ich mit der Frage und meiner schon ewig vermuteten Annahme heraus.

Silas brach den Blickkontakt ab und musste schlucken. Es war ihm unangenehm. "Nein", antwortete er überrumpelt. "Ich- ich habe dir schon mal gesagt, dass das für mich kein Problem ist."

Er schüttelte den Kopf, als er sich von mir abwandte und sich in seinen Wagen hineinlehnte. Nach einiger Zeit richtete er sich wieder auf und hielt dabei etwas hoch, das sich in seiner Hand befand - meine Zigaretten.
"Das hier bereitet mir schon eher Sorgen."

Er kam auf mich zu, ergriff meine linke Hand mit seiner eigenen und drückte mir die Schachtel in diese. Ich schaute zu ihm auf, wodurch sich unsere Blicke trafen. Wieder einmal verschlug es mir die Sprache, selbst Luft holen wollte ich nicht.
Im Gegensatz zu Silas - dieser tat so, als wenn es normal wäre, einem anderen Mann so nah zu sein, dass man ihm beinahe auf die Füße trat.

"Ich dachte einfach, dass du sie schon längst vergessen hättest oder nicht mehr rauchen willst. Was hat sich denn geändert?"
"Ich- ich weiß nicht. Hatte einfach das... Verlangen danach", antwortete ich mit zittriger Stimme. Nicht aus Angst, sondern weil mich dessen Nähe und Wärme durcheinander brachte.
"Hmh", brummte der Ältere in Gedanken verloren, und ich wunderte mich, ob er mir überhaupt zugehört hatte. Außerdem waren dort, wo er hinschaute, nicht meine Augen!

Irgendwann wurde es mir dann aber doch zu merkwürdig, weshalb ich das Ganze auflösen musste.
"Silas? Alles gut? Wollen wir... losfahren?"
Der Angesprochene erwachte aus seiner Trance und zog die Augenbrauen verwirrt zusammen.
"Was? Fahren?"
"Ja ... nach Hause", fügte ich hinzu, damit er es ganz sicher begriff - und das tat er auch. Denn er nickte und wies mich erneut darauf hin, in den Wagen einzusteigen. Ich gehorchte augenblicklich und schnallte mich an, nachdem ich die Zigarettenschachtel in meine Hosentasche gesteckt hatte.
Kurz darauf befanden wir uns auf den ruhig befahrenen Straßen der Stadt.

𝖠𝖻𝗀𝖾𝖿𝗎𝖼𝗄𝗍 𝗐𝗂𝖾 𝖠𝗅𝖾𝗑𝖺𝗇𝖽𝖾𝗋 | manxmanWhere stories live. Discover now