33 | Kindheitserinnerungen

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Mitten in der Nacht drehte ich mich von einer Bettseite auf die andere und fand einfach keine Ruhe. Ich überlegte, warum ich das nicht konnte und dann fiel es mir wieder ein: Es beschäftigte mich viel zu sehr, meinen Heimatort aufzusuchen und das Mehrfamilienhaus, in dem ich aufwachsen musste, ohne dass jemals auch nur ein anderer Mensch etwas mitbekommen hatte, was man mir dort tagtäglich antat. Und auch wenn ich vor dem Zurückkehren Angst hatte, musste ich es wagen. Vielleicht konnte ich dann mit allem besser abschließen. Wie nannte Dr. Myers das nochmal? Ah ja, Konfrontationstherapie mit dem größtmöglichen Angstauslöser.

Entschlossen zog ich mich wieder um und ging auf Zehenspitzen durch den Flur und anschließend die Treppe hinunter in die Küche. Dort suchte ich nach einem Zettel und einem Stift, damit ich Silas einen Brief schreiben konnte. Schon lange hatte ich nicht mehr geschrieben, und so sah meine Handschrift auch aus - krakelig und unsauber, eine Mischung aus Druck- und Schreibschrift.

Silas,
ich bin einige Stunden lang weg, komme aber wieder. Und ich leihe mir einige Dollar aus, die ich dir später zurückzahlen werde.

Alex

Ich vergaß zu schreiben, dass er sich keine Sorgen machen sollte, da ich gar nicht erst auf die Idee kam. Auch, wenn er es mir oft vor Augen geführt hatte, fand ich die Vorstellung absurd, dass jemand ernsthaft Angst um mich haben konnte. Sowas war einfach verdammt lächerlich.

Mit einem kritischen Gesichtsausdruck und einem Kopfschütteln, nahm ich den Zettel und legte ihn auf den Tisch, weil ich mir sicher war, dass er ihn dort auf jeden Fall finden würde.

Dann ging ich weiter und holte aus dem Flur die Jacke, in der sich die Stadtkarte befand und zog diese schnell an, während ich gleichzeitig in meine Schuhe schlüpfte.

Auf dem Weg zu einer Bushaltestelle, die sich ganz in der Nähe befinden musste, analysierte ich die Karte hochkonzentriert und berechnete innerlich meinen Weg zum Zielort. Es würde über eine Stunde dauern, um dort anzukommen. Ich seufzte leise, hob meinen Kopf an, bevor ich noch eine Genickstarre bekam oder erneut mit einer Laterne Bekanntschaft machte und richtete meinen Blick anschließend auf etwas interessanteres. Denn mir stach blaues und lila Licht in die Augen, als ich die Straßen entlang lief. Nach einigen Metern konnte ich nun auch endlich die Schriftzüge erkennen, von denen die knalligen Farben auskamen.
A Guy's Paradise. Was war das?

Meine Frage wurde beantwortet, als zwei Männer lachend und Arm in Arm aus dem Laden getorkelt kamen. Der eine war nur leicht bekleidet, der andere besaß noch all seine Klamotten. Und dann fing ich an zu begreifen, dass es ein Strip-Club oder ein Bordell für Männer sein musste.

Mit einem leichten Stirnrunzeln ging ich schnell weiter, bis zur Bushaltestelle, wo ich mich schließlich hinsetzte und auf den Bus wartete. Dieser kam nach langen zehn Minuten an und nachdem ich mein Ticket bezahlt hatte, setzte ich mich an ein Fenster.

Die Fahrt dauerte tatsächlich so lange und ich musste sogar einmal aussteigen, um mit einem anderen Bus weiterzufahren.

Und dann stand ich da. Hier, an der altbekannten Bushaltestelle, die ich jeden Früh aufgesucht hatte, um zur Schule zu gelangen. Von hier aus durften es nur noch einige hundert Meter sein und mein Herz begann jetzt schon schneller zu schlagen.

Meine Beine setzten sich wie von allein in Gang, einen Fuß vor den anderen und es brachte mich immer näher an das heruntergekommene Wohnhaus. Es schien nicht mehr bewohnt zu sein, Fenster waren eingeschlagen und die Fassade bröckelte an einigen Stellen auf den kahlen Boden. Die hässliche braune Farbe blätterte sich von der Tür ab, die mich an ein bestimmtes Szenario von vor fünfzehn Jahren erinnerte. Wie festgewurzelt, blieb ich schließlich stehen und starrte die braune Tür und den Gehweg davor weiterhin an.

Es war wieder der erste Schultag nach den Ferien und ich hatte gehofft, dass sich etwas ändern würde, doch das war nicht der Fall; es wurde sogar noch schlimmer.

"Mach, dass du rauskommst", brüllte mein Vater wütend, als er mich aus der Haustür trat, sodass nicht nur ich, sondern auch mein noch offener Rucksack auf den Boden fiel.

Ich keuchte beim Aufprall laut auf, drehte mich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Seite und versuchte mich dennoch zusammenzureißen, da mich niemand so sehen durfte. Die Schürfwunden an meinen Handflächen brannten und bluteten, als ich mich mit diesen vom Boden wegdrückte und auf die Knie stützen wollte, um meine verstreut herumliegenden Sachen aufzuheben. Ich packte einzelene Stifte, Blätter und einen Apfel wieder in den Rucksack, den ich anschließend schloss und aufsetzte. Dann hievte ich mich langsam hoch und humpelte anschließend zur Bushaltestelle weiter.

Ich verkrampfte immer mehr, als sich weitere solcher Begebenheiten vor meinem inneren Auge abzuspielen begannen. Mein Atem beschleunigte sich rapide, sodass ich eine Hand auf meine Brust drückte, in der Hoffnung, dass ich dadurch wieder richtig Luft bekommen würde - doch vergebens. Meine Beine gaben langsam nach, weshalb ich mich nach etwas umschaute, woran ich mich hätte festhalten können, aber es gab nichts, das mir eine Stütze gewesen wäre. Ich verlor schließlich mein Gleichgewicht, als meine Augenlider schwerer wurden und ich wenig später den harten und kalten Boden unter mir spürte. Darauf folgte eine angsteinflößende Dunkelheit, die sich über mich zu legen schien.

Mein Kopf schmerzte, als ich allmählich wieder zu mir kam und mich aufsetzen wollte. Ich wusste nicht, wie lange ich hier herumgelegen hatte, doch es war immer noch stockdunkel, wenn man das Licht der Laterne ignorierte. Also musste das bedeuten, dass nicht allzu viel Zeit vergangen sein konnte.

Ich erhob mich langsam und entfernte mich so schnell wie möglich von diesem Haus und somit weg von all den schlechten Erinnerungen. Und zu meinem Unglück fing es auch noch an zu regnen, weshalb ich die Jacke enger um mich schlang und das Tempo meiner Schritte beschleunigte, um schnell an der Bushaltestelle anzukommen. Dort setzte ich mich nass und frierend unter das Dach und wartete - allein. Niemand anderes trieb sich hier herum, in dieser trüben und verwahrlosten Gegend. Es verging eine halbe Stunde, bis endlich ein Bus kam, in den ich schließlich langsam einstieg und welcher bereits nach wenigen Sekunden losfuhr.
Während ich mich nach hinten hindurchschlängelte, musste ich mich an einigen Sitzen festhalten und wurde dabei von einzelnen Personen schräg angeschaut.

Als ich dann endlich den vorletzten Platz an der Fensterscheibe erreichte, setzte ich mich. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich meinen Kopf senkte und auf meine dreckigen Hände schaute. In meinen Augen sammelten sich volle Tränen an, da ich an meinen Vater und Silas denken musste. Vielleicht war es doch keine gute Idee hierher gekommen zu sein.
Außerdem wollte ich mir erst gar nicht Silas' Reaktion ausmalen, wenn ich wieder bei ihm aufkreuzte. Ich schluckte ängstlich, als mein schlechtes Gewissen mich zu erdrücken schien.

Während der Fahrt versuchte ich mir einzureden, dass es gar keinen Grund dafür gab, sich schlecht zu fühlen und Angst zu haben. Der Zettel sollte doch Erklärung genug sein, dass ich etwas zu erledigen hatte.

Mit einem verzweifelten Kopfschütteln blickte ich aus dem Fenster, gegen das die Regentropfen nur so prasselten. Es wirkte beunruhigend, doch genau so fühlte ich mich gerade auch.
Unsicher, zerrissen und hilflos.

𝖠𝖻𝗀𝖾𝖿𝗎𝖼𝗄𝗍 𝗐𝗂𝖾 𝖠𝗅𝖾𝗑𝖺𝗇𝖽𝖾𝗋 | manxmanWhere stories live. Discover now