50 | Narben

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"Was für eine Sorte Tee möchtest du denn?", fragte Silas an mich gewandt, während er in der Küche mit dem Wasserkocher hantierte.

Ich hatte es mir bereits in einem Bademantel und mit einer Decke um meinen Körper, vor der Couch im Wohnzimmer gemütlich gemacht und blickte in das flackernde Kaminfeuer, von dem eine angenehme Wärme ausgestrahlt wurde. Sie ließ mich leicht lächeln und meine Augen für einen Moment schließen, ehe ich Silas antwortete: "Irgendwas mit Früchten."

"Hätte ich mir denken können", kam es dann amüsiert von ihm. Ich wusste ebenfalls, warum er sich das dachte, als mir unser Besuch im Eiscafé einfiel.

"Hmh", gab ich bloß von mir, als Silas mit zwei Tassen ankam, die er auf den tiefen Tisch abstellte.

"Rutsch mal ein Stück vor, Kleiner", sagte er und grinste darauffolgend, da ihn mein genervter Blick anscheinend belustigte. "Jaja, ich weiß, dass du den Namen nicht magst."
"Aha, und warum nennst du mich dann immer wieder so?", wollte ich wissen und versuchte dabei nicht sonderlich trotzig zu klingen.

"Weil du eben kleiner bist. Und-"
"Aber nur wenige Zentimeter!", fiel ich ihm rasch ins Wort und verschränkte meine Arme, nachdem ich ihm den Gefallen getan und meinen Hintern nach vorne bewegt habe, sodass er hinter mir Platz nehmen konnte.

"Ja, stimmt. Und was ich noch sagen wollte: Du bist einfach niedlich."
"Bin ich nicht", meinte ich hochrot und war froh, dass er mein Gesicht nicht sehen konnte.
"Na gut, dann eben nicht. Du verdrehst mir trotzdem jede Sekunde den Kopf. Mich hätte gerne mal interessiert, wie das damals war", murmelte er nachdenklich vor sich hin und machte mich somit neugierig.
"Damals?", bohrte ich ein wenig nach, damit er sich mehr erklärte.
"Als du in der Schule warst."
"Oh", stieß ich sprachlos aus. "Das-" Ich war ratlos und musste schlucken, als meine Kehle plötzlich staubtrocken wurde. Schon wieder dieses miese Thema. "Naja, da gab's mal einen Kerl. Aber da lief nie was, weil-- Du weißt schon."
"Weil?", drängte er mich mit sanfter Stimme und ich wog ab, ob ich es ihm wirklich erzählen sollte. Es würde letztendlich keinen Unterschied mehr machen, wenn er es wüsste. Ich seufzte leise: "Wegen meines Va- Stiefvaters. E-er hat mich verprügelt, als er mich mit ihm gesehen hat. Ich war neu an der Schule, da hat er mich herumgeführt und dann nach Hause gebracht. Es- es war nur ein dummer Kuss, mehr nicht. Aber der war schon zu viel - verdammt, hätte ich ihn bloß weggeschickt, dann hätte er das nicht gesehen und- und dann wäre es vielleicht nicht so ... so schlimm gewesen, aber-"

"Schon gut, Alex. Ich-- Du musst nicht darüber reden, nicht jetzt. Wir haben ganz viel Zeit dafür."
"N-nein. Ich will aber darüber reden", versicherte ich ihm und zog meine angewinkelten Beine näher an mich heran, damit ich meine Arme um diese legen konnte. Wenige Sekunden später spürte ich Silas' Hand an meiner Schulter, wie sie zu meinem Nacken wanderte und von dort zu meinem schwarzen Haar am Hinterkopf, an dem er mich zu kraulen begann.
"Okay, Kleiner."

Ich nickte leicht, diesmal unberührt von dem Kosenamen, und versuchte den Faden wiederzufinden.
"E-es war der schrecklichste Tag meines Lebens. So, wie er auf mich eintrat oder naja-", schniefte ich leise, "wie er mit der Bierflasche und seinem Gürtel herumfuchtelte. Ich- ich weiß nicht, wieso der schon so kaputt war ... Vielleicht weil er ihn zu lange getragen hatte oder doch meinetwegen?", stellte ich die Frage an mich selbst gerichtet, als ich dies endlich realisierte. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, Silas' liebevolle Geste verschwand endgültig, nachdem er die Bewegungen seiner Finger schon vor einigen Sätzen verlangsamt hatte.
"Ich- ich hab vergessen und aufgehört zu zählen, wie oft er mir meine Knochen brach. Ich hab sogar das Gefühl, dass mein ... Schlüsselbein noch immer nicht richtig verheilt ist. Sieht meine Nase eigentlich schief aus?" Ich schüttelte den Kopf, wollte die Antwort nicht hören. "Ich-- S-seine Worte, diese schrecklichen Worte, s-sein Brüllen. Er wollte aus mir etwas machen, was ich nie sein konnte. Ein "richtiger Mann" oder sowas ... Aber ich war am Ende, halbtot und alles, alles was ich noch wollte-- Ich- ich wollte sterben", hauchte ich leise und strich mir gedankenverloren über die aufgestellten Haare an meinen Unterarmen. "Es- es fühlt sich an, als wäre es gestern gewesen." Trotz Therapie und all diesem unnützen Mist.

𝖠𝖻𝗀𝖾𝖿𝗎𝖼𝗄𝗍 𝗐𝗂𝖾 𝖠𝗅𝖾𝗑𝖺𝗇𝖽𝖾𝗋 | manxmanWhere stories live. Discover now