35 | Termin beim Therapeuten

2.2K 153 7
                                    

Nach unserer morgendlichen Routine, rufte Silas während des Frühstücks im Krankenhaus an, um einen Termin für das Fädenziehen auszumachen.
"Noch heute? Okay, gut. Und wann? Heute Nachmittag um halb drei, alles klar. Danke, ciao."

Er warf mir beim Reden andauernd prüfende Blicke zu, bis er schließlich auflegte.
"Ist das in Ordnung für dich?", fragte er vorsichtig und ich nickte als Antwort bloß.
"Okay."

Silas trank seinen Kaffee leer, als sein Handy plötzlich klingelte. Mit einem Stirnrunzeln nahm er den Anruf an und stellte sich formal vor.
"Oh-"
Er stellte denjenigen auf laut, damit ich auch mithören und antworten konnte.
"Alexander sitzt neben mir, Dr. Myers. Sie können auch direkt mit ihm sprechen."
"Ah, sehr gut. Ja, dann erstmal guten Morgen, Alexander. Wie geht es dir?"

Seine Stimme verriet nichts, doch ich konnte mir denken, dass er - wie Silas zuvor - aufgebracht war und einiges mit mir zu besprechen hatte. Und um nicht unhöflich zu wirken, antwortete ich ihm sofort nach einem kurzen Räuspern.
"Morgen. Mir... geht es gut."

"Hm", kam es nachdenklich von der anderen Seite der Leitung. "Ich hätte heute einen Termin für dich frei, wenn du willst und noch nichts besseres vorhast."

Ich schluckte leise und versuchte den gewissen Unterton in dessen Stimme zu ignorieren.
"Nein, hab ich nicht. Also, ich hätte Zeit, ja", stammelte ich, derweil fuhr ich mir nervös durch die Haare.

"Sehr gut. In zwei Stunden?", wollte der Therapeut ganz geschäftlich wissen.
"Ja, klingt gut."
"Dann bis um elf, Alexander."
"Bis dann."

Silas tippte eine Taste und hielt sich dann wieder das Handy an sein Ohr. Er fragte noch nach der Adresse, da weder er, noch ich eine Ahnung hatte, wo sich das Büro oder die Praxis meines Therapeuten befand. Dann legte er endgültig auf und schob sein Handy in die Hosentasche seiner dunklen Jeans.

"Ganz schön viel zu erledigen heute", gab Silas brummend von sich, als er den Tisch abzuräumen begann.
"Aber egal. Nachdem ich dich zu ihm gebracht habe, fahre ich zum Gefängnis und suche nach deiner Geburtsurkunde und deinen Zeugnissen. Dann hole ich dich wieder ab, sodass wir gleich zum Krankenhaus fahren können. So wäre das auch erledigt. Okay?"

Ich nickte, sichtlich überfordert davon. Doch ich wollte nicht diskutieren, weil sein Plan eigentlich ganz gut klang.

"Soll ich mich schon mal fertig machen?"
Silas legte seine Stirn in Falten, als er mich nachdenklich betrachtete. Daraufhin schaute ich an meinem Körper hinab, um zu kontrollieren, ob an diesem irgendetwas komisch war.

"Quatsch, du hast doch noch genug Zeit", sagte Silas schließlich beruhigend, was mich leise seufzen ließ.
"Stimmt."

Der Ältere nickte leicht, während sein Blick auf dem gefliesten Boden der Küche haftete. Es schien ihn immer noch etwas zu bedrücken.
"Alles ok?", wollte ich wissen.
"Hm- ja. Okay, nein. Eigentlich nicht", gab er zu und ich fühlte mich augenblicklich ganz unwohl.
Nervte ich ihn etwa mit meiner Anwesenheit und den sich anhäufenden Terminen?

Ich zupfte nervös am Kragen meines T-Shirts herum, weil ich Silas nicht fragen wollte, was genau nicht in Ordnung war.

"Es ist einfach- keine Ahnung. Ich frage mich eben, wo du gesteckt hast und warum du mir nichts erzählt hast." Er klang verletzt, und auch wenn ich mich wie der schlechteste Mensch auf der Welt fühlte, konnte ich es ihm nicht sagen.

Nach langem Schweigen und einem Kopfschütteln zog ich mich aus der Küche zurück und suchte meine Sachen zusammen, die ich für meinen Termin bei Dr. Myers anziehen würde. Ich entschied mich schlicht und einfach für eine Jeans und ein dunkelgraues Shirt.

Nachdem Silas mich in der Innenstadt vor einem großen Gebäude abgesetzt hatte, winkte ich ihm noch schnell zu, bevor er in Richtung Gefängnis weiterfuhr. Er wirkte abwesend, so als wenn er mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen wäre. Vermutlich war er das auch, denn er hatte die gesamte Autofahrt über kein Wort verloren.

Nachdenklich lief ich schließlich die Treppen zur Eingangstür hinauf und klingelte. Mir wurde die Tür von einer Sekretärin geöffnet, die mir sogleich meine Jacke abnehmen wollte. Ich lehnte jedoch höflich ab, ging an ihr vorbei und den Flur entlang. Die Wände waren zum größten Teil allesamt weiß gestrichen, einige andere waren in einem blassen Orange bemalt.

Im Warteraum setzte ich mich schließlich auf einen Stuhl und griff zu einer Zeitung. Die Schlagzeile dieser sprang mir sofort in die Augen. "Mörder bereits nach elf Jahren frei gesprochen."

Mein Körper versteifte sich und nicht nur meine Hände verkrampften sich, sondern auch mein Herz. Das Papier der Zeitung litt unter meinem festen Griff und eigentlich hätte man sie danach direkt in den Müll werfen können, doch ich schmiss sie wütend auf den Tisch zurück.

"Alexander?", sagte eine mir bekannte und raue Stimme, die von meinem Therapeuten auskam. Erschrocken und nach Luft schnappend, blickte ich zu ihm auf. Hatte er das etwa gesehen?

"Eh- ja? Hallo", erwiderte ich so schnell, wie ich nur konnte.
"Alles in Ordnung?" Seine grünen Augen verengten sich ein wenig - kein gutes Zeichen.
Ich nickte nur, als ich seinem Blick auswich und mich von dem bequemen Stuhl erhob, der mit rotem Material gepolstert war.
"Können wir?"
"Ja, folge mir", meinte er sachlich, und das tat ich.

Dabei hatte ich Zeit, mich in Ruhe umzusehen. An den modernen und beigefarbenen Türen standen hellbraune Kommoden, meist mit einer weißen, hohen Vase und Blumen darauf. Daneben kleine Karteikarten und eine Schale voll mit Bonbons. An den Wänden hingen vereinzelte, aber gezielt ausgesuchte Bilder. Keines dieser sollte Menschen, die sich in Behandlung befanden, provozieren. Deshalb hatten sie auf mich eine positive und beruhigende Wirkung. Aber das war nur meine persönliche Aufnahme. Ein anderer würde das Foto eines Meeres vielleicht aufbrausend und stürmisch finden, auch wenn die Sonne schien.

Mein Blick richtete sich schließlich auf den breiten Rücken meines Therapeuten, den ich immer nur in teuren, schicken Anzügen sah und seit meinem siebzehnten Lebensjahr kannte. Er wusste meist mehr über mich, als ich selbst. Und manchmal machte mir das Angst.

Doch momentan hoffte ich einfach nur, dass er nicht zu wütend auf mich war. Bei ihm wusste man das nie, da er sich so gut beherrschen und es immer verstecken konnte. Erst einmal rastete er wirklich aus, aber daran wollte ich mich jetzt nicht erinnern.

Dr. Myers bat mich in sein Zimmer herein, in dem ein Schreibtisch, eine bequeme Couch und mehrere Zimmerpflanzen standen. Ich straffte meine Schultern - eine resignierte Geste -, während ich auf das Sofa zusteuerte, auf das ich mich wenige Sekunden später fallen ließ. Mit einem letzten Blick auf die Uhr und dem Gedanken, dass das hier bestimmt sehr lange dauern könnte, begann Dr. Myers schließlich zu reden.

𝖠𝖻𝗀𝖾𝖿𝗎𝖼𝗄𝗍 𝗐𝗂𝖾 𝖠𝗅𝖾𝗑𝖺𝗇𝖽𝖾𝗋 | manxmanWhere stories live. Discover now