•ERSTE UNTERRICHTSSTUNDE•

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Noah und ich stehen immer noch vor der Tür. Ich schaue zu ihm und weiß nicht was ich sagen soll. „Ja, also ich sollte jetzt mal rein gehen."

Ich versuche mich aus der peinlichen Stille, welche sich über uns gelegt hat, zu retten. „Das solltest du. Also viel Erfolg. Wir werden uns sicher noch öfters sehen." Er dreht mir den Rücken zu und geht den Gang entlang.

Ich warte noch bis er um die Ecke gegangen ist, bevor ich das Sekretariat mit zitternden Händen betrete. Eine ältere Frau sitzt hinter dem Empfang und tippt auf der Tastatur herum. Ihre grauen Haare hat sie in einem Dutt gekämmt, welcher jeden Moment droht auseinanderzufallen. Die braune Brille rutscht mit jedem tippen auf der Tastatur weiter runter, bis sie ihr herunterfällt. Sie unterbricht ihre Arbeit und setzt sie sich wieder auf. Ich räuspere mich, um auf mich aufmerksam zu machen. Erst jetzt schaut sie von ihrem Bildschirm auf. „Ja mein Liebes. Wie kann ich dir helfen?", ihre Stimme erinnert mich an meine alte Geschichtslehrerin. Frau Lewis, wie sehr ich sie vermisse. Sie hat mit uns die schönsten Museen in Sydney besucht.

„Ich bin Violet Leaves und ich bin erst vor einem Tag hierhergezogen." Meine Stimme gleicht der einer Maus. Sie scheint meine Unbehaglichkeit zu spüren. „Ganz ruhig. Ich beiße nicht. Das tut hier niemand. Komm bitte mit. Wir werden erst einmal deinen Pass anfertigen."

Sie steht auf und geht rüber zu einer weißen Wand. Vor ihr ist eine Kamera platziert. „Stell dich doch bitte vor die Wand."

Ich stelle mich davor und warte auf weitere Anweisungen. „So, nun zeig mir dein schönstes Lächeln."

Mein Lächeln kommt verkrampft rüber, doch das ist mir herzlich egal. Sie drückt auf den Auslöser und ein Blitzlicht blendet mich für eine Sekunde. Bunte Punkte tanzen vor meinen Augen. Erst ein paar Sekunden später klärt sich mein Sichtfeld wieder.

Sie geht wieder an ihren Computer und tippt in ihre Vorlage umher. „Könntest du mir verraten, in welche Jahrgangsstufe du gehst?"

„Das hier ist mein Abschlussjahr." Ich hoffe sie weiß was damit anzufangen.

„Sehr schön. Wir warten auf deine Karte und dann kannst du in den Unterricht gehen. Währenddessen können wir deinen Stundenplan durchgehen."

Sie hält mir einen Plan vor das Gesicht.

„Du kannst dir verschiedene Fächer selbst auswählen, die du belegen möchtest. Es gibt jedoch Pflichtfächer wie Sport, Englisch, Mathe und Geschichte. Nach einem viertel Jahr kannst du sie tauschen."

„Gut dann möchte ich Kunst, kreatives Schreiben, Biologie und Sozialkunde dazu wählen."

„Schön, da trage ich alles ein. Die Schule beginnt Montag bis Freitag von 8:00-15:15. Nach der Schule können noch AGs belegt werden. Draußen am schwarzen Brett findest du alle Informationen zu den entsprechenden Vereinen. Du kannst dich dann nach Belieben dort eintragen. Ich gebe dir noch einen Tipp. Auf Bewerbungen sieht es immer gut aus, wenn man in seiner Freizeit sich einer Gemeinschaft anschließt." Sie zwinkert mir zu.

Ich nicke. Sie geht zu einem Tisch gegenüber von ihr und nimmt den Pass und überreicht ihn mir. Mit dem Stundenplan und meinem Ausweis entlässt sie mich. Ich bedanke mich bei ihr und verlasse das Zimmer.

Draußen halte ich nach dem schwarzen Brett Ausschau. Es befindet sich nur wenige Meter neben dem Sekretariat. Schon aus der Ferne kann man den Überfluss an Angeboten sehen. Viele bunte Zettel kleben schon fast übereinander, aus Platznot. Ich trete heran, um einen besseren Überblick zu bekommen. Diverse Sportgruppen, die Schach-AG, die Chemie oder Mathe-AG, die Theater-AG, der Debattierklub, eine Forschungs-AG, die Fotografie-AG und noch viele weitere. Das alles spricht mich nicht wirklich an.

Die Klingel ermahnt mich zum Unterricht. Schon wieder schaue ich orientierungslos durch die Gegend. Ich werfe einen Blick auf meinem Stundenplan.

Englisch - Raum 05"

Wie soll ich jetzt noch pünktlich zum Unterricht kommen, wenn ich den Raum nicht finde?

Die Nummer beginnen mit einer null. Somit müssten sie sich im Erdgeschoss befinden. Ich laufe den Gang entlang und schaue auf die Türen. 01, 02, 03, 04, 05. Das muss es sein. Unschlüssig stehe ich vor der Tür. Ich habe das ganze schon einmal durchgemacht, doch ich fühle trotz allem Angst in mir aufkommen. Diese Angst wieder allein anzufangen, ohne Freunde oder Bekannten. Erst Monate später Freunde finden. Das werde ich jetzt womöglich wieder durchleben.

Ich hole noch einmal tief Luft, ehe ich die Klinke herunterdrücke und das Zimmer betrete. Der Lehrer unterbricht seine Ansprache und sieht mich verdutzt an. Die Aufmerksamkeit der Klasse habe ich ebenfalls gewonnen. Schweißperlen bilden sich auf meinem Gesicht. „Ähm... ich bin Violet Leaves und ich bin neu an die Schule gekommen. Das ist mein erster Unterrichtsblock."

Erkenntnis zeichnet sich auf dem Gesicht des Lehrers wieder.

„Ah genau, ich habe schon auf Sie gewartet. Willkommen Miss Leaves, in der Welt der Literatur. Sie können sich in die vorletzte Reihe an das Fenster setzten. Da müsste noch ein freier Platz sein."

Ich nicke und gehe den Gang entlang. Vorbei an Schülern, welche mich die ganze Zeit beobachten. Die meisten schauen nur desinteressiert ins Leere, andere schauen mich mit Neugier in den Augen an. Nur wenige von ihnen mustern mich mit einem abschätzenden Blick.

Schnell setzte mich hin. Ich öffne meinen Rucksack und hole meinen Block und meine Federmappe heraus. „Miss Leaves. Wir werden uns dieses Jahr mit dem Klassiker „Der große Gatsby" von F. Scott Fitzgerald auseinander setzten. Bitte haben sie ab der nächsten Stunde ein Exemplar dabei. Diese eine Stunde können sie mit in das Buch eines Mitschülers reinschauen. Miss Tyson, wären sie so freundlich?"

Ein Mädchen mit rabenschwarzen Haaren schiebt ihren Tisch näher zu mir. Ihre grünen Augen schauen mich hinter einer dicken Brille an. Sie legt ihr Exemplar in die Mitte und lässt mich mit hineinschauen. Sie schreibt das Tafelbild ab. Mehr als ihren Nachnamen, weiß ich nicht von ihr. Ihr scheint es so wie mir zu ergehen. Zu Fremden distanziert und ruhig. 








The Cheer SurferWhere stories live. Discover now