15. Gleichgewichtstraining

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Zum Mittagessen hatte irgendjemand Nudeln gekocht. Marco sah ich komischerweise nicht mehr, obwohl er gestern Abend noch gemeint hatte, er würde schauen, dass er immer mit mir zusammen zu Mittag aß. Ich machte mir aber auch keine größeren Gedanken darüber. Wahrscheinlich hatte er noch mit ein paar Pferden zu tun.

Jedenfalls begab ich mich nach meinem Teller Käsenudeln zurück in den Stall, um Vito noch den letzten Feinschliff zu verpassen. Ich war noch am Überlegen, ob ich den Sattel weglassen sollte, als Mario den Stall betrat.

"Bist du so weit, Hanna?", fragte er und kam an Vitos Box. "Ja, so ziemlich. Ich überlege gerade ob ich ihn satteln soll." Ich nickte zu meinem Falben, der dösend auf den Boden schielte. "Wieso denn nicht?", wollte mein Meister verwundert wissen. "Wenn er sich hinlegen soll oder irgendwelche Luftsprünge macht, oder keine Ahnung was du von mir verlangst, da wäre ein Sattel nur im Weg. Allerdings wäre er auch ganz praktisch, wenn ich ihm die Hilfen von Oben geben soll. Also dass er die Übungen unter mir ausführt.", erklärte ich meinen Gedankengang. "Achso... nee, mach ihn lieber drauf. Hast du nicht mal gesagt, dass Sattel für ihn Arbeit bedeuted und en liberté für Freizeit und Entspannung gedacht ist?" "Stimmt. Du hast Recht. Wir müssen Arbeiten.", bestätigte ich Mario und legte behutsam das Lederstück auf den Rücken meines Pferdes. Dieser wachte dadurch allmählich blinzelnd aus seinem Halbschlaf. "Arbeit?", erkundigte er sich einsilbig. "Mhm.", nickte ich, versucht unauffällig. Demonstriv gähnte Jovito und beschloss dann, uns seine Aufmerkseit zu schenken, indem er Mario umissverständlich klar machte, gekrault zu werden. Dieser kam seiner Aufforderung lächelnd nach und ich bebachtete die Beiden schmunzelnd. Kleiner Schleimer.

Zum Glück brauchte ich nicht mehr lange, denn so wie es aussah, ging Vito noch ein Stück weiter, als er sollte und wollte gerade beginnen, die Taschen des Meisters nach Leckereien abzusuchen, als ich das mit der Trense unterband. Denn das wäre nicht nur eine Unart und schlechtes Benehmen seinerseits, sondern auch peinlich. Sollte Mario etwa denken, ich hätte das Tier gar nicht erzogen?

Nichts desto trotz standen wir beide kurz darauf fix und fertig in der Halle und ich ritt meinen Hengst mit verschiedenen Übergängen und weiten, gebogenen Linien warm. Mein Gastgeber war uns in die Halle gefolgt und lehnte nun erwartungsvoll an der Bande. Nach einer Viertelstunde lockerem Reiten, entschied er schließlich, dass es genug war und lief in die Mitte des Sandplatzes. "Fangen wir an?", fragte er in dem Ton meines ehmaligen Reitlehrers. Statt einer Antwort nickte ich nur und parierte meinen Falben aus dem Trab durch, der auch sofort stehen blieb und am Gebiss kaute. Sehr schön, versuchte ich gedanklich an mein Pferd zu übermitteln, doch da wir durch die Ströme im Moment nicht verbunden waren, verstand er es wahrscheinlich nicht. "Was willst du zuerst sehen?", gab ich zurück und blickte meinen Meister aufmerksam an. "Wir fangen klein an, würde ich sagen. Spanischer Schritt?" Ein kurzes Nicken reichte ihm als Bestätigung und er ging ein paar Schritte nach hinten, damit er mir nicht im Weg war. Konzentriert nahm ich die Zügel etwas kürzer und ritt an das andere Ende der Halle. Ich hatte keine Gerte in der Hand, worüber ich mich gewaltig ärgerte. So konnte ich Vito keine direkten Hilfen an die Schulter geben, also versuchte ich es, indem ich mich etwas nach hinten lehnte, um mein Gewicht auf seine Hinterhand zu verlangern und dann streng nach vorne zu treiben, um meinen Hengst dann mit den Zügeln etwas zurückzuhalten. Zur Krönung stupste ich ihn mit den Zehenspitzen sanft gegen die Schulter. Die einzige Stelle, die ich mit den Steigbügeln richtig erreichen konnte, ohne wie ein Hampelmann zu wirken. Zuerst wirkte der Falbe unter mir etwas irritiert, doch dann sprang er artig in den spanischen Schritt. Ich war erleichtert. Denn meine Hilfen waren garantiert nicht korrekt gewesen, aber da ich sonst mit meiner Stimme arbeitete, kannte ich das vollständig korrekte Kommando gar nicht. Normalerweise hoben die Pferde ihre Beine beim Touchieren mit der Gerte, die ich aber leider vergessen hatte.

Jedenfalls klappte es trotzdem. Nachdem ich die Hälfte der Halle geschafft hatte, schielte ich unauffällig zu meinem Meister, dessen Miene gar nichts verriet. Doch schließlich winkte er ab. "Reicht... aber weißt du was? Zeig mir mal alles, was du mit ihm kannst. Ich schaue mir das zuerst an, damit wir anschließend daran trainieren können." Das löste einen innerlichen Luftsprung in mir aus. Das war genau meine Spezialität. Die Präsentation von Vitos Kunsstücken. Das hatte ich den letzten Sommer oft genug gemacht, um darin mittlerweile richtig gut zu sein. So beschränkte ich mich wieder nur auf die stimmlichen Hilfen und zeigte eine fast gelungene Piaffe, die allerdings noch nicht so ganz auf der Stelle war, als sie sollte, den spanischen Trab, eine Hinterhandwendung aus dem Galopp, das Steigen, welchem allerdings nach wie vor an Höhe fehlte und eine handvoll der M-Dressurlektionen, von denen ich wusste, dass Vito sie konnte. Darunter waren das Seitwärtsgehen, welches er jedoch nur im Schritt beherrschte, Rückwärtsrichten und der fliegende Galoppwechsel. Erst zum Schluss ließ ich Vito noch über das Verbeugen hinliegen und beendetet damit meine knapp 10-minütige Vorführung. Mario nickte anerkennend und ich ließ den Hengst wieder aufstehen.

"Pirouette und Traversale kann er nicht, oder?", hörte ich ihn dann sagen. Bedauernd schüttelte ich den Kopf. "Leider nicht. Die Piaffe war ja auch nicht ausgereift, aber alles konnte ich ihm in einem Sommer auch nicht beibringen. Und das Steigen hat ebenfalls noch nicht die Höhe erreicht, die es erreichen soll.", erklärte ich. "Manchmal vergesse ich eben auch, dass dieser Vier-jährige so etwas überhaupt schon auf die Reihe bekommt. Normalerweise verlange ich solche Übungen frühstens im Alter von zehn Jahre. Alles andere ist eigentlich vom Verständnis und der Konzentrationsfähigkeit nicht möglich. Aber so wie es aussieht, haben wir hier ein Ausnahmetalent.", er nickte zu meinem Pferd, der ruhig am Zügel stand und sich von seiner kurzen Anstrengung erholte. "Kann gut sein. Er ist wirklich fantastisch.", lächelte ich Vito an, der sein Dank über mein Lob durch eine kurze Berrührung an meiner Schulter ausdrückte.

"Jedenfalls werde ich dir jetzt ein paar Übungen für das Gleichgewicht zeigen, denn für die Übungen, die euch noch fehlen, ist das ziemlich wichtig. Damit kannst du dann auch arbeiten, wenn du wieder in Deutschland bist.", erklärte mir und bereitwillig übergab ich ihm meinen Falben, der an Marios Hand sofort wieder nervös wurde. Der Trainer pfiff jedoch beruhigend und kurz darauf hatte sich mein Pferd an seine Hilfen gewöhnt. Somit hatten sie endlich die Grundlage, die ihnen fehlte, um die Übungen korrekt auszuführen. Und anschließend traute ich meinen Augen kaum.

Mario wirkte auf Vito so gut ein, dass mein Pferd plötzlich zu den atemberaubendensten Übungen fähig war, an die ich nicht mal im Traum gedacht hatte. Ich versuchte, mir alle Lektionen genau einzuprägen, damit ich das ebenfalls so trainieren konnte.

Nach einer halben Stunde war Jovito jedoch mit seinen Kräften und seiner Konzentration am Ende, sodass mein Meister die Stunde zuende brachte und mir den Falben wieder in die Hand drückte, damit ich ihn noch trockenreiten konnte. Allerdings beschränkte ich mich nur auf Führen, denn mit meinem Gewicht, egal wie schlank ich war, dauerte es auf jeden Fall länger.

Marion, die mich entdeckte, begleitete mich auf meinem kleinen Spaziergang über den Hof. "Hast du morgen irgendetwas vor?", fing sie das Gespräch an. Ich zuckte mit den Schultern. "Ich habe morgen einen freien Tag, soweit ich das mitbekommen habe. So wie jeden Donnerstag.", erklärte ich. "Hast du Lust mit mir und einer Freundin morgen nach Paris zu gehen? Ich denke, ich bin dir noch etwas schuldig...", grinste sie vielsagend. "Was denn?", schmunzelte ich, doch meine Freundin umarmte mich nur kurz. "Wird eine Überraschung!", feixte sie an meinem Ohr. Lachend schob ich sie weg. "Jetzt tu nicht so geheimnisvoll!" Doch ohne ein weiteres Wort, ließ die blonde Stuntreiterin mich einfach stehen und verschwand im Stall. Kopfschüttelnd sah ich ihr nach. Typisch Marion.

Moondancer - Maître des ChevauxWhere stories live. Discover now